Die aus dem Nachlass der Schriftstellerin Friedl Benedikt herausgegebenen Aufzeichnungen „Warte im Schnee vor Deiner Tür“ beeindrucken durch die Vielfältigkeit und Genauigkeit ihrer Beobachtungen. Fragmentarisch lose durch die Chronologie der Jahre im Exil zusammengehalten, ergeben sie ein lebendiges Bild der Menschen, unter denen sie sich von 1939 an bis zu ihrem frühen Tod 1953 bewegte. Mit Neugier und Staunen erzählt die aus Wien stammende Autorin, die in den 1940er Jahren drei Romane auf Englisch veröffentlichen konnte, von ihrem Leben in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Als Tochter von Ernst Benedikt, dem Herausgeber und Chefredakteur der „Neuen Freien Presse“, war sie als Jüdin vor den Nazis zu ihrer Tante Heddie nach London geflohen, die dort mit dem bekannten englischen Ägyptologen Alan Gardiner verheiratet war. Über ihre Cousine Margaret lernte sie in den folgenden Jahren zahlreiche englische Künstler und Intellektuelle kennen.
Benedikt beschreibt das große Landhaus, das die wohlhabenden Gardiners jeden Sommer außerhalb von London mieten, gibt ein bissiges Porträt ihrer Tante, die dort um Anstand und Etikette bedacht ist. Manchmal ist sie in dem großen Haus allein und phantasiert surrealistische Szenen, wie die, dass der Tee von drei Wochen aus ihrem Magen über das graue Linoleum die Treppe hinunterläuft. Dann kommen wieder Freunde der Familie zu Besuch, Maler und Dichter, Journalisten und Wissenschaftler, unter ihnen auch ein ehemaliger Schatzkanzler des Premierministers. Ihre in London gebliebene Cousine hat zu ihrer Begeisterung bereits Kafka gelesen. Über sie lernt sie dann auch die Historikerin Veronica Wedgewood und die Lyrikerin Stevie Smith kennen, die erste Kontakte zu Verlegern herstellen.
Aber Benedikt erzählt auch vom Kriegsalltag einfacher Leute, denen sie im Pub oder auf der Straße begegnet. Sie berichtet von einer Busfahrt durch das nächtliche London, wo nach dem Ende der deutschen Luftangriffe erste Straßenlampen wieder eingeschaltet werden. Von zwei Taubstummen, die sie in einem Pub beobachtet: „Ich habe noch nie jemanden mit solcher Intensität reden gesehen. … Ihre Gesichter wechselten innerhalb einer Minute von engelhafter Zärtlichkeit zu Wildheit eines Tigers.“
Die Texte aus dem Sammelband, der von den Herausgebern mit einem instruktiven Nachwort und Kommentaren versehenen wurde, sind Fingerübungen, zu denen Friedl Benedikt von Elias Canetti angeregt wurde. Beide hatten sich 1936 im Haus von Benedikts Eltern in Wien kennengelernt. Der sechs Jahre ältere Canetti wurde, wie sie selbst schreibt, zu ihrem „Lehrer“, und er wurde zu ihrem Liebhaber. Sie bewunderte seinen Roman „Die Blendung“, der gerade erschienen war, und Canetti förderte ihr Schreiben. „Du bist die geborene Erzählerin“, schrieb er ihr einmal in einem Brief.
Die Beziehung zu Canetti, der Paarbeziehungen grundsätzlich ablehnte, war schwierig. Venetiana Taubner, genannt Veza, hatte Canetti 1934 noch in Wien geheiratet, um ihr den Erhalt eines Visums für England zu erleichtern. Sie förderte die Beziehung von Canetti zu Benedikt und hat sie in ihrem Roman „Die Schildkröten“ in der Figur der Hilda positiv porträtiert. Aber auch Benedikt hatte Probleme, sich in Liebesdingen zu binden. In Paris schreibt sie 1948: „Da ist diese Frage, die ich mir ständig stelle und auf die ich nur manchmal eine Antwort habe: Warum ist es so, dass ich wegwerfe, was ich habe, und es dann ewig suche?“
Friedl Benedikts Skizzen und Tagebuchaufzeichnungen geben ein lebendiges Panorama ihres Lebens im Exil, darunter auch die eindrucksvolle Schilderung ihrer Reise zurück nach Wien, wo ihr der Dialekt auf eigentümliche Weise fremd geworden ist. „Warte im Schnee vor Deiner Tür“ ist wie ein Wimmelbild, das nicht durch eine Idee, sondern durch Orte und durch die Zeit zusammengehalten wird. Ein Bild, dessen Figuren unmittelbarer und lebendiger wirken als in manchem durchkomponierten Roman. Benedikts Liebe zu Canetti spielt dabei, wie der Titel vermuten ließe, kaum eine Rolle (die Herausgeber haben ihn einem Neujahrstelegramm Benedikts an Canetti entnommen). Obwohl sie in der Ich-Form schreibt, thematisiert sie sich selbst nur selten. Neugierig auf das Leben gilt ihr Interesse denen, die sie umgeben, die sie trifft. „Ich habe es schrecklich gerne“, schreibt sie im August 1942, „wenn ich zu jemandem spreche, von dem ich keine Ahnung habe, der von mir keine Ahnung hat, und darum geh ich gerne in das kleine Glass House. Jedes Mal, wenn ich dorthin gehe, spreche ich mit jemanden, und es sind Menschen, die ich sonst niemals treffen würde.“