Dem Sog der Bücher von Ulrike Edschmid kann man sich nur schwer entziehen. Der melancholische Ton, der sorgsam entwickelte Spannungsbogen ziehen den Leser durch den Text. Die Melancholie entsteht dabei durch die Erinnerung an Menschen, die in Edschmids Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, die sie geliebt, aber durch den Tod oder dem Ende der Liebe verloren hat. Ihre Prosa ist deshalb immer auch Trauerarbeit. Es gilt, sich die Geschichte der geliebten Menschen im Erzählen noch einmal zu vergegenwärtigen, um zu akzeptieren, dass sie nicht mehr da sind. Darauf, dass Edschmid dabei vieles durch Verdichtung, Auslassung und Ergänzung literarisiert, weist sie am Ende hin: „Nichts von dem, was auf diesen Seiten zur Sprache kommt, ist mit realen Ereignissen oder Personen gleichzusetzen.“
In ihrem neuen Buch, „Die letzte Patientin“, geht es um eine Freundin, die sie als junge Studentin kennenlernt hatte. Aus einem konservativen luxemburgischen Elternhaus kommend, zog sie in Edschmids WG nach Frankfurt am Main. Es ist die Zeit der RAF und der Terrorhysterie und eines nachts stürmt die Polizei die Wohnung der WG. Die Freundin steht im „geblümten Nachthemd aus Flanell vor bewaffneten Polizisten, die sie ohne ihre Kontaktlinsen nur als dunkle Schatten wahrnehmen kann. Wie eine Mutter, die sie nie sein würde, stellt sie sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tür des Kinderzimmers, in dem mein Sohn schlief, und verweigerte so entschieden den Zugang, dass die Polizisten schließlich wieder abzogen.“
1976, nach dem Ende der Franco-Diktatur, zieht sie mit einem spanischen Anarchisten, der nach Deutschland geflohen war, nach Barcelona. Aber die Liebe hält nicht lange. Der Mann verliebt sich in eine jüngere Frau. In Briefen über fast vierzig Jahre berichtet sie der Erzählerin über ihr Leben und Lieben in der Fremde. Der erste Brief kommt aus Bisbee, Arizona, einer verlassenen, trostlosen Kupferminenstadt an der Grenze zu Mexiko. „»Wenn Du hier wärest«, schreibt sie am 10. Juni 1980, »würdest Du mir raten, so schnell wie möglich zu verschwinden.«“ Ein Mann, der sich um Kinder aus dem Grenzland kümmert, hat es ihr angetan. Aber auch diese Liebe geht in die Brüche. „Was sie hätte geben wollen, war auch das, wonach sie selber verlangte. Zu viel in der Welt eines Mannes, schreibt sie, der es gewohnt ist, für sich zu sein. Ihre Leidenschaft sprengt sein eigenes Maß, stellt ihn in Frage, überrollt, befremdet und verstört ihn. Er wendet sich ab und verstummt.“
Es ist die Heimatlosigkeit, die das Leben der Freundin prägt. Immer unterwegs kommt sie nie an, wie schon in „Levys Testament“ Edschmids Freund und Regisseur Brian Michaels, der ihr von London nach Frankfurt folgt und plötzlich von einem Teil seiner Familie erfährt, von der er nichts wusste, oder in „Das Verschwinden des Phillip S.“ ihr Freund Werner Philipp Sauber, dessen Weg in den Terror sie zu verstehen versucht. Vielleicht sind diese Heimatlosen in ihrer literarischen Zuspitzung für Ulrike Edschmid neben der Trauerarbeit auch Ausdruck ihres Lebensgefühls, so wie eine Landschaftsbeschreibung, die das Innenleben des Erzählers ausdrückt.
Die Radikalität, mit der die Freundin nach ihrem Leben in Bisbee, Arizona, durch Südamerika reist, sich nicht abschrecken lässt von Gewalterfahrungen und scheiternden Beziehungen, erscheint wie eine Folge ihrer Wurzellosigkeit. Eine Radikalität, die sich auch in der Entscheidung zeigt, noch einmal neu anzufangen und nach Barcelona zurückzukehren. Mit Mitte Dreißig beginnt sie Psychologie zu studieren, lässt sich als Körper- und Psychotherapeutin ausbilden. Und als dann, am Ende ihres Lebens, als sie schon mit dem Krebs zu kämpfen hat, eine junge Frau in ihrer Praxis auftaucht, die zu ihrer letzten Patientin werden soll, wird deren Unmöglichkeit zu sprechen, deren radikales Schweigen zum Ausdruck ihrer eigenen Beschädigung, ihres eigenen Schicksals. Eines Schicksals, dem Ulrike Edschmid auch mit ihrem neuen Buch wieder ein, auch im wörtlichen Sinn, beeindruckendes Denkmal gesetzt hat.
Neues Deutschland, 15. Oktober 2024