„Jedes Schreiben ist für mich Fiktion“, schreibt Ronya Othmann in „Vierundsiebzig“. „Ob ich über mich schreibe, meinen Vater, meine Großmutter oder eine Figur, der ich einen Namen gebe und eine Geschichte.“ Es ist ein Eingeständnis, dass die Wirklichkeit nie vollständig in einem Text abgebildet werden kann. Und schon gar nicht der 74. Ferman, der 74. Versuch 2014, die Êzîden als ethnisch-kulturelle Gruppe auszulöschen.
Und doch fährt Ronya Othmann vier Jahre danach das erste Mal in den Irak und die Türkei, beginnt über den Genozid zu schreiben. Ihre Onkel und Tanten hatten Glück, konnten 2014 im letzten Moment vor dem IS fliehen. Aber sie erzählen ihr von dem Horror, als der sunnitische IS große Gebiete im Irak und Syrien eroberte. Gebiete, in denen seit Jahrtausenden Êzîden siedeln, eine zumeist Kurdisch sprechende ethnisch-religiöse Gemeinschaft, die weder dem Islam noch dem Christentum oder Judentum angehören. Die êzîdischen Männer wurden ermordet, die Frauen als Sklavinnen verkauft.
Othmann redet mit Menschen, die vertrieben wurden, die Angehörige an den IS verloren haben. Sie redet mit Xatê Shingali, einer bekannten êzîdischen Sängerin, die 2016 eine Peschmerga-Frauenbrigade gegründet hat. Sie sieht die Zerstörungen und lässt sich von Dörfern erzählen, wo die muslimischen Nachbarn, mit denen die Êzîden zusammengelebt haben, an den Mordaktionen teilnahmen. Von Dörfern, in denen heute wie selbstverständlich Muslime leben.
Dem Leser wird schnell klar, wie beschränkt die Möglichkeiten sind, das Leid der Opfer in seinem ganzen Ausmaß zu verstehen und zu beschreiben. „Jeder Text, den ich schreibe, kann nur unvollständig sein, wenn nicht gar irreführend.“ Trotzdem schreibt Othmann weiter, getrieben von den Ereignissen, von dem, was ihr die Überlebenden erzählen. „Ich will mich aus dem Text streichen. Nur noch Auge und Ohr sein. … Ich habe Angst, dass ich das, was ich gesehen und gehört habe, mir entgleitet.“ An einer Stelle dann glaubt sie, der Text würde sie von dem Alptraum befreien. „Ich sage mir, ich muss den Text zu Ende bringen. Wenn der Text fertig ist, kann ich alles vergessen.“ Doch auch das ist eine Illusion: „Ich notiere auch: Für diesen Text gibt es kein Ende.“
Viele Stellen sind auch für den Leser kaum auszuhalten. Und zwar nicht nur dort, wo Othmann von den Taten des IS berichtet. Unerträglich ist auch die fehlende Sensibilität, mit der über den Genozid an den Êzîden berichtet wird. Die Sensationslust, mit denen die Opfer von den Medien als gewinnbringende Nachricht missbraucht werden. Man schämt sich über die fehlende Einfühlung in die Überlebenden, die als Zeugen vor Gericht auftreten, auch beim Gerichtsprozess gegen Al-J., der ein fünfjähriges êzîdisches Mädchen in der prallen Sonne verdursten lies. Und warum sind am 30. November 2021 nur vier Pressevertreter anwesend, als das Urteil in dem, wie der Richter vorweg sagt, „weltweit ersten Prozess, in dem eine Verurteilung wegen Völkermordes ausgesprochen wird, den die Mitglieder des »Islamischer Staat« begangen haben“?
Gleichzeitig entwickelt die Geschichte von „Vierundsiebzig“ einen Sog, bei dem man als Leser das ungute Gefühl hat, von der eigenen Apokalypsenfaszination und Sensationslust gepackt zu werden. Es ist das ewige Dilemma zwischen Unterhaltung und Aufklärung, das hier besonders deutlich wird. Aber wie kann sonst eine Katastrophe in der Erinnerung gehalten, wie anders als mit einem Text wie den Othmanns, um einen neuerlichen Genozid zu verhindern? Widersprüche, die auch Ronya Othmann sieht, aber nicht auflösen kann.
Auch ihre eigene, widersprüchliche Identität lässt Ronya Othmann offen, erzählt nur von ihrem Ringen um die Frage, wer sie ist. Nach den strengen Regeln der Gemeinschaft ist nur der Êzîde, dessen beide Elternteile Êzîden sind. Othmann aber hat eine deutsche Mutter. Was nichts daran ändert, dass sie sich als Êzîdin fühlt und nächtelang nicht schlafen kann, als der IS Frauen wie sie versklavt und Männer wie ihren Vater oder ihren Onkel umbringt.
„Vierundsiebzig“ ist ein Buch über den Genozid 2014 an den Êzîden. Aber es ist gleichzeitig auch ein Buch über Ronya Othmann, die aus der Ferne dem Schrecken nur zusehen kann und vier Jahre später zu dokumentieren beginnt. Es ist deshalb auch ein Buch über uns alle, die wir vielleicht keine Êzîden sind, die wir uns aber wie Ronya Othmann angesichts des Grauens fragen: Was tun?
Neues Deutschland, 19. Juni 2024