„Nicht ich, meine Herrn Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.“ Atemlos und verzweifelt versucht sich Hans Stern, Erzähler in Peter Flamms Roman „Ich?“, mit seiner Geschichte zu verteidigen. Er glaubt, er sei ein anderer, sei nicht der Arzt aus Berlin, sondern Wilhelm Bettuch, ein Bäcker aus Frankfurt. Er sagt, er hätte nur den Pass von Stern gefunden, der noch am letzten Tag bei Verdun von einer Granate getötet worden sei, völlig sinnlos, wie der ganze Krieg. Er hätte ihn genommen und dessen besseres Leben angenommen. Doch der Leser mutmaßt, dass es umgekehrt Stern ist, der sich für Bettuch hält. Denn als er in Berlin ankommt, erkennen ihn alle wieder, seine Frau Grete, seine Geliebte und sein Freund. Außer seinem Hund, der ihn bei seiner Ankunft beißt, so, als spüre er, dass er in Wirklichkeit ein anderer ist und seine äußere körperliche Hülle nur so aussieht wie Hans Stern. Wie in der Odyssee, in der Argos, der Hund des Odysseus, den Helden sicher wiedererkennt, spürt Sterns Hund, dass sein Herr eigentlich auf dem Schlachtfeld geblieben ist und wie Wilhelm Bettuch in einem der zahllosen Gräber von Verdun liegt.
„Ich?“ traf 1926, als Peter Flamms Roman-Debüt zum ersten Mal erschien, den Nerv der Zeit und wurde ein Erfolg. Das Buch handelt von einem Trauma, mit dem sich Millionen herumschlugen: das Trauma des Krieges. „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper“, beschrieb Walter Benjamin, den epochalen Einschnitt des Ersten Weltkriegs.
Das was „Ich?“ auch heute noch interessant und lesenswert macht, sind nicht nur die gegenwärtigen Kriege, sondern ebenso das darüber hinausgehende Ringen Hans Sterns um seine Identität. Die Antwort auf die philosophische Frage, „Wer bin ich“, wurde seit dem Beginn der Moderne immer prekärer. Das 19. Jahrhundert hatte mit der Industrialisierung und Verstädterung, die Tradition und Familie als Ursprünge und damit als Basis der Identität angekratzt. „Ich ist ein Anderer“, schrieb Arthur Rimbaud. Dass sich daran bis heute nichts geändert hat, sondern im Gegenteil, Globalisierung und Migration das Identitätsproblem eher noch verstärkt haben, zeigt das Nachwort von Senthuran Varatharajah. Hier schreibt ein Deutscher, dem wahrscheinlich die Frage, „wer bist du?“, oft gestellt wird. Für den die Frage nach der Identität nicht nur eine persönliche, private Frage bleibt.
Hans Stern irrt in seiner Verteidigungsrede durch sein Leben nach dem Krieg. Atemlos folgt ihm der Leser, der erst langsam erfährt, weshalb er angeklagt wurde. Seinen Richtern versucht Stern zu erklären, dass er zwischen seinen Gefühlen und seiner Vernunft hin- und hergeworfen wird. Letztlich ist es diese Spannung, dieser Widerspruch, der für Hans Stern zum zentralen Problem wird. Peter Flamm, der eigentlich Erich Mosse hieß und Neffe des großen Berliner Verlegers war, musste als Jude 1933 aus Deutschland fliehen und ließ sich in New York als Psychiater nieder. In einem im Anhang abgedruckten Vortrag, den Mosse 1959 auf einem Pen-Kongress in Frankfurt hielt, formuliert er es mit Freud: Die nicht mehr funktionierende Austarierung der Spannung zwischen seinem „Es“, der Instanz der Gefühle und Triebe, und seinem „Ich“, dem Bewusstsein und der Vernunft. Ein zivilisatorisches Gleichgewicht im Menschen, dass der Krieg zerstört hat. Das nicht nur die tötet, die auf dem Schlachtfeld bleiben, sondern auch die, deren Glück eigentlich nicht größer sein könnte, weil sie die Hölle überlebt haben und nach Hause zurückkehren konnten.
die tageszeitung, 10./11. Februar 2024