Sri Lanka? Da war doch was. – Nein, nicht das tropische Paradies, die weißen Strände, der blaue Himmel, sondern der Bürgerkrieg, das Gemetzel von 1983 bis 2009. Der Krieg zwischen den „Tamil Tigers“, die mit militärischer Gewalt die Unabhängigkeit der tamilischen Minderheit im Norden der Insel von der singhalesischen Mehrheit im Süden erkämpfen wollte. Die Tigers, die mehr und mehr zur Terrorbewegung mutierten und allein 240 Selbstmordattentate verübten mit zahllosen unschuldigen Opfern. Und die von den Singhalesen dominierte Regierung Sri Lankas, die nicht nur gegen die Tigers kämpfte, sondern auch mit heimlicher Unterstützung von Todesschwadronen mordend ihre Interessen durchzusetzen versuchte. Als die Lage aus dem Ruder zu laufen drohte, holte sie dann indische „Friedenstruppen“ ins Land, die dann ebenfalls wenig zimperlich Unschuldige töteten. Kurz, der blutige Teil der Geschichte dieser tropischen Trauminsel, der nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 40.000 und 70.000 Tote allein unter der Zivilbevölkerung forderte.
Auch Maali Almeida, der Held von Shehan Karunatilakas mit dem Booker Prize 2022 ausgezeichneten Roman „Die sieben Monde des Maali Almeida“, ist tot. Als Geist findet er sich in einer Art Zwischenreich wieder und versucht, in einem heruntergekommenen Verwaltungsgebäude herauszufinden, wie es jetzt für ihn weitergeht. Hinter einem Tresen steht dort Dr. Ranee Sridharan, Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin, eine der ersten Opfer des Bürgerkrieges, die ihm erklärt, dass er sieben Monde, also sieben Tage Zeit hat, um „ins Licht“ zu kommen. Sie sagt, dass die, die nicht ins Licht kommen, danach zu Dämonen werden. Und da taucht auch schon eine zwielichtige Gestalt in einem schwarzen Umhang auf, die Dr. Sridharan zu vertreiben versucht. Es ist Sena Pathirana, ein „Campuskommunist“, der Almeida auf seine Seite zu ziehen versucht: „Jeder Seele werden sieben Monde zugestanden, um im Dazwischen zu wandern. Sich auf vergangene Leben zu besinnen. Um dann zu vergessen. Ihr sollt vergessen, denn wenn ihr vergesst, ändert sich nichts.“ Sena, wie er immer nur genannt wird, will dagegen „etwas Sinnvolles“ tun. Sena will als Dämon auf die Lebenden Einfluss nehmen, um sich für das Unrecht zu rächen. „Die Welt korrigiert ihren Kurs nicht von selbst“, sagt er. Und: „Die Rache ist euer Recht“.
Es ist frappierend, wie schnell man Karunatilakas Geisterwelt akzeptiert und sich mit dem vom Wind hin- und hergewehten Geist Maali Almeidas in die eine oder andere Ecke von Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas, treiben lässt. Andererseits ist der allwissenden Erzähler eines „realistischen“ Romans ja auch nichts anderes als ein Geist, der auf magische Weise zu jeder Zeit an jedem Ort sein kann. Wobei es für Maali Almeida in Karunatilakas Zwischenreich nur möglich ist, an Orte zu gelangen, an denen sich sein Körper im Leben befunden hat; außerdem an solche, wo sein Name ausgesprochen wird und er noch nicht vergessen ist.
An die letzten Stunden seines Lebens kann sich Maali Almeida nicht erinnern. Er will deshalb herausfinden, wer ihn umgebracht hat. Dass er nicht eines natürlichen Tod gestorben ist, steht für ihn fest. Es gibt einige, die ein Interesse an seinem Tod hätten. Seit 1983, seit dem Beginn des Bürgerkriegs, ist er immer wieder ins Kriegsgebiet gereist. Dort hat er für alle Seiten Fotos gemacht und später seine Kontakte zu den Kriegsherren dazu genutzt, um Interviewtermine für die internationale Presse zu vermitteln. Viele seiner Kunden trifft er im Casino in Colombo, wo Almeida regelmäßig sein Honorar verspielt. Manche „Journalisten“ entpuppen sich später als Waffenhändler, denen Interviewtermine nur dazu gedient hatten, neue Geschäfte anzubahnen. Außerdem gibt es diskreditierende Fotos aus der Anfangszeit des Krieges, die nie veröffentlicht wurden. Auf einem ist Justizminister Cyril Wijeratne am Rand eines Massakers in einem tamilischen Dorf zu sehen. Hat Wijeratne ihn umbringen lassen? Dann wäre es wichtig, seine Fotos vor dem Zugriff der Polizei und des Geheimdienstes zu retten. Aber wie soll das aus dem Geisterreich heraus funktionieren?
Es ist weniger dieser Plot, der die Lektüre von „Die sieben Monde von Maali Almeida“ vorantreibt. Es sind die intelligenten Dialoge, die den Roman prägen und mit ihrer Interpretation der Wirklichkeit, ihrer Tragikomik und ihrem Sarkasmus das Interesse des Lesers aufrecht erhalten. Vor dem Hintergrund der jüngsten Geschichte Sri Lankas thematisiert Karunatilaka die großen philosophischen und politischen Fragen. Beispielsweise die nach der Herkunft. Maali Almeida hatte Glück, weil er in der „Geburtslotterie“, wie seine große Liebe DD es nennt, nicht in eine rein tamilische Familie hineingeboren wurde. Sein Vater ist Singhalese und von ihm hat er den singhalesischen Nachnamen; in der patriarchalen Gesellschaft Sri Lankas macht es da wenig aus, dass seine Mutter Tamilin ist. Und er hat großes Pech, weil er als Schwuler in einer homophoben Gesellschaft landet. Weshalb er zur Tarnung offiziell mit seiner besten Freundin Jaki zusammenzieht, die mit DD zusammenwohnt, ihrem Cousin.
Shehan Karunatilaka erzählt in seinem intelligenten und eindrucksvollen Roman von einem Land, dass nach dem blutigen Bürgerkrieg im Westen in Vergessenheit geraten ist. Aber auch in Sri Lanka selbst interessieren Maali Almeidas Kriegsfotos schnell nicht mehr und tragen schon gar nicht zum Ende des Tötens bei. Auch die Gutsituierten in Colombo verdrängen den Krieg und lassen es sich – ein paar Stunden Busfahrt vom Gemetzel entfernt – auf Partys, in den Cafés und am Strand gut gehen.
Almeida und mit ihm Karunatilaka weist auf die koloniale Vergangenheit hin, die Engländer, die die Insel ausbeuteten, die bei der Grenzziehung die alten Grenzen zwischen dem tamilischen und dem singhalesischen Königreichen ignorierten und damit eine der Grundlagen für den Bürgerkrieg legten. Er sieht die Waffenhändler aus dem Westen, die zynisch ihre Geschäfte mit allen Seiten machten. Aber er gibt damit die Verantwortung für die Katastrophen in seinem Land nicht einfach ab, sondern weist auf die heutige homophobe, frauenfeindliche und rassistische Gesellschaft Sri Lankas hin. Immer wieder taucht bei Maali Almeidas Versuch, seine Fotos zu retten und seinen Mörder zu finden, der Dämon Mahakali auf. Er ist „das schwarze Herz des Universums. War nicht immer so böse“, wie es am Ende im Personenregister heißt. An einer Stelle des Romans wählt Karunatilaka ein ambivalentes Bild, eines, in dem sich vielleicht gleichzeitig der Mut ausdrückt, angesichts des Bösen die Wahrheit zu sagen. Maali Almeida sagt, während Mahakali ihn umarmt: „Die Briten haben uns ein rohe Perle hinterlassen und wir schaufeln sie seit vierzig Jahren mit Dreck zu. … Hier kommt die stinkende Wahrheit, atme tief ein. Wir haben es alles selbst in die Scheiße geritten.“
die tageszeitung, 12. Januar 2024