Tonio Schachinger ist der Shooting-Star der jungen österreichischen Literatur. Das Debüt des heute 31-jährigen, „Nicht wie ihr“, hat es 2019 gleich auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gebracht. Sein neuer Roman, „Echtzeitalter“, hat ebenfalls das Potential zu einem Literaturpreis. Erzählt wird darin die Geschichte von Till Korkuda, von dessen Eintritt in die Internatsschule des Marianums bis zu seiner Matura, dem österreichischen Pendant zum deutschen Abitur. Die in Wien gelegene Schule gilt als Eliteschmiede, in der noch alte pädagogische Grundsätze gepflegt werden.
Gleich zu Beginn wird der Deutschlehrer Bruno Dolinar, der unter den Lehrern die alten Grundsätze am gnadenlosesten vertritt, zu Tills Klassenlehrer. Mit sadistischer Lust verhängt er für die kleinsten Vergehen Strafarbeiten und reduziert so und durch die hohen Lernanforderungen die Freizeit seiner Schüler auf ein Minimum. Die wenige Zeit, die Till bleibt, verbringt er vor dem Computerbildschirm, beim Spielen von „Age of Empire 2“. Nach und nach arbeitet er sich zu einem der Top-ten-Spielern weltweit hoch, was aber keiner aus seinem Umfeld wahrnimmt. Nur zwei Mädchen, die wie Till in gleicher Distanz zum Marianum stehen und mit denen er sich anfreundet, halten ihn nicht für einen Spinner.
„Echtzeitalter“ ist ein Coming-of-Age Roman wie man ihn heute nicht mehr für möglich gehalten hätte. Er erinnert an die klassischen Schulgeschichten vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Man denkt an Hanno Buddenbrook aus Thomas Manns Roman, den der preußische Drill an der Schule fast zerbricht, an Hesses „Unterm Rad“. Aber gleichzeitig ist Tonio Schachingers Roman sehr gegenwärtig, insbesondere was Tills Gaming-Leidenschaft angeht. Der Leser erfährt vom Sinn und den Folgen der Spielleidenschaft. Das Stereotyp vom Soziopathischen der Gamer wird in Frage gestellt, denn AOE2, wie die Abkürzung in Gamerkreisen lautet, wird mit mehreren Spielern übers Netz gespielt. Auf den Turnieren gibt es Teams, die gemeinsam Strategie und Taktik diskutieren. Auch ginge es nie um Gewalt, wie gemeinhin angenommen wird, „sondern immer um Immersion“, also um das Eintauchen in andere Welten, wie der Erzähler, der mehr oder weniger Tills Perspektive einnimmt, in Hinblick auf Tills bildungsbürgerliche Mutter sagt. „Und brächte sie diese Erkenntnis damit in Verbindung, wie sie es empfindet, in ein Kunstwerk einzutauchen, in einen Haneke-Film oder ein Händel-Oratorium, dann könnte sie vielleicht nachvollziehen, warum Till sich zu etwas hingezogen fühlt, das ihm jeden Abend garantiert, was Kunst nur in ihren besten Momenten schafft.“
Im Zentrum des Buches steht jedoch die Auseinandersetzung mit der Schule. Bruno Dolinar ist für Till die Inkarnation des überkommenen pädagogischen Konzepts der Schule, von dessen Drill und verlogenen katholischen Konservatismus. Im Deutschunterricht geht es für den Lehrer nicht um ein tieferes Verständnis der literarischen Texte, sondern um das Herunterbeten von Fakten, die der Text enthält. Das führt dazu, dass die Absolventen bereits Monate nach der Matura „so gut wie nichts mehr über Wilhelm Tell und Das Kloster bei Sendomir [wissen], aber man kann sie noch Jahrzehnte später nach einer relevanten Papstfamilie der Renaissance und ihrem Wappen fragen, und sie werden zumindest die Barberini mit ihren Bienen nennen können“. Sprachbilder sind verpönt, „sie hechtete aus der Schussbahn“ wird von Dolinar als Ausdrucksfehler angestrichen, „denn hechten konnten nur Hechte“, was dazu führt, dass viele der Schüler des Deutschlehrers „Sprache als Ganzes nicht mehr mögen“. Aber statt froh zu sein, die Schulzeit überstanden zu haben, suchen einige Ehemalige ihren Lehrer wieder auf, verklären die Leidenszeit wie andere den Militärdienst, „weil man sie schließlich überstanden hat, und dass einen das mit den anderen verbindet, die ebenfalls nicht daran zugrunde gegangen sind“.
Tonio Schachinger erzählt die Geschichte des Außenseiters und Gamers Till Korkuda lebendig und spannend. Er versieht seine Erzählung mit intelligenten Beobachtungen und Interpretationen. Es ist kein Roman, der groß Motive hin- und herschiebt und eine zweite Ebene hat; der Erzähler verbirgt sich auch nicht hinter rätselhaften erzählten Geschehnissen, sondern sagt dem Leser immer unmittelbar, was er denkt. Manchmal streift Schachinger in seiner Abscheu vor dem ÖVP- und FPÖ-Konservatismus, für die das Marianum auch steht, Thomas Bernhards niedermachende Schreibweise. Aber über weite Strecken ist „Echtzeitalter“ ein realistischer Roman über eine unglückliche Jugend, eine reflektierte Abrechnung mit dem speziellen österreichischen Weg, an einer Elitenbildung durch autoritäre Pädagogik festzuhalten. Tills Korkudas Schulzeit, die Wirrungen der Pubertät in Liebesdingen, wird von Schachinger geschickt in die politisch-gesellschaftlichen Ereignisse der von Sebastian Kurz und der FPÖ geprägten Jahre eingebettet. Ein Buch, das sich leicht liest, aber trotzdem noch lange im Leser nachwirkt.
Neues Deutschland, 20. April 2023