Lea Ypi war elf Jahre, als sie 1990 den Boden unter den Füßen verlor. Auf den Straßen ihrer Heimatstadt Durrës schrien die Demonstranten „Freiheit, Demokratie, Freiheit, Demokratie“. Gleichzeitig war das Donnern der Stiefel von Polizei und Soldaten zu hören. Ihre Eltern und ihre Großmutter hatten auf ihre Frage, was da gerade passiere, nur ausweichend und uneindeutig geantwortet. Voller Angst rannte Ypi in den kleinen Park am Kulturpalast. „Als Stalin am Horizont erschien, wusste ich, ich war in Sicherheit. Er stand dort so feierlich wie immer mit seinem unscheinbaren Mantel, den schlichten Bronzeschuhen und der rechten Hand unterm Revers, als hielte er sich das Herz. Ich blieb stehen, vergewisserte mich, dass niemand mir gefolgt war, und trat näher heran. Sobald ich die Wange an Stalins Oberschenkel legte und versuchte, seine Knie vollständig zu umarmen, wurde ich unsichtbar.“
Lea Ypi ist heute Professorin für Philosphie an der London School of Economics. Ihr Buch über ihre Kindheit in Albanien, „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, ist eine Reise in die unbekannte Vergangenheit eines unbekannten Landes. Denn noch immer spielt Albanien, Jahrzehnte nach dem Ende des real existierenden Sozialismus, im europäischen Bewusstsein keine Rolle. Und wer weiß schon, dass es das letzte stalinistisch regierte Land in Europa war? „Was Stalin so besonders machte“, hatte die Lehrerin von Lea Ypi zu der Klasse gesagt, „war seine Fähigkeit, mit den Augen zu lächeln. Ist das zu glauben? Mit den Augen lächeln?“ An dem Tag, an dem sie sich zu Stalin in den Park am Kulturhaus flüchtet, schaut sie nach oben, will in seine lächelnden Augen sehen. Doch da war nichts mehr – die Demonstranten hatten seinen Kopf bereits abgeschlagen.
„Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte“. Lea Ypi fühlte sich frei, in manchen Situationen, so dachte sie, hatte sie sogar zu viel Freiheit, denn es fiel ihr schwer sich zu entscheiden. Doch irgendwann ist die Kindheit mit ihrer Märchenwelt zu Ende. Sowohl das allumfassende Vertrauen als auch die bösen Mächte unterm Bett verschwinden. Allerdings hatte sich der Weg dorthin bereits durch unerklärliche Dinge angekündigt. Warum wollten ihre Eltern zum Beispiel kein Bild von Enver Hoxha, dem langjährigen Führer und faktischen Diktator Albaniens, im Wohnzimmer aufstellen, nachdem „Onkel Enver“ 1985 starb? Und warum redeten ihre Eltern und ihre Oma so oft davon, dass jemand seinen Universitätsabschluss gemacht hatte?
In der Schule war Lea Ypis Nachname schon immer ein Problem gewesen. Jedes mal, wenn die Rede auf „den Verräter“ Xhafer Ypi kam, der Albanien 1939 kampflos dem faschistischen Italien überlassen hatte, musste sie erklären, dass es nur ein Zufall war, dass auch sie Ypi heißt. Denn nichts war in ihrer Kindheit wichtiger als „die Biografie“. Man hatte eine gute oder man hatte eine schlechte. Hatte man einen Verräter in der Familie oder einen Bourgeois, einen Ausbeuter, hatte man im Leben zahlreiche Nachteile, wenn man nicht gleich im Gefängnis landete.
Lea Ypi erzählt in allen Facetten von den Folgen des radikalen Umbruchs in Albanien nach der Wende. Sie erzählt, wie ihre Kindheitswelt von einem Moment auf den anderen verschwand und Begriffe und Werte plötzlich das Leben bestimmten, von denen sie in der Schule gelernt hatte, dass sie vom Klassenfeind stammen. Ein Begriff wie „die Zivilgesellschaft“ trat plötzlich an die Stelle von „die Partei“. „Liberalisierung“ war ein neues Zauberwort, dessen Folgen dann, 1997, im sogenannten „Lotterieaufstand“ endete, bei denen fast alle Albaner ihre Ersparnisse in nach dem Ping-pong-Prinzip aufgebauten Unternehmen verloren. Die Folge war ein Bürgerkrieg, bei dem die leeren Patronenhülsen auf die Fensterbank vor Lea Ypis Zimmer flogen und sie für eine Zeit lang ihre Stimme verlor. Es sind extremen Erfahrungen, die in vieler Hinsicht paradigmatisch für den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus sind. Dabei gelingt es Ypi, ihre Kindheitsgeschichte unter den besonderen Umständen Albaniens für den Leser so zu erzählen, dass er seine eigenen Erfahrungen in denen der Autorin wiederfindet. Gleichzeitig lässt sie keinen Zweifel an den Unterschieden, am Ausmaß von Demütigung und Leid, das diese Zeit für die Albaner bedeutet hat. „Wenn die Touristen uns besuchten“, schreibt sie über die Wende, „beruhte das Ganze wenigstens auf Gegenseitigkeit. Sie glotzten uns an, wir glotzten sie an. Wir lebten in getrennten Welten. Mit der Trennung war es nun vorbei, aber auf Augenhöhe waren wir nicht.“
Lea Ypi: „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“, Suhrkamp Verlag, 332 Seiten. 28 Euro
Neues Deutschland, 19. März 2022