Per Olov Enquist

Rund Achthundert Kilometer nördlich von Stockholm liegt das kleine Dorf Hjogböle. Die weit verstreut liegenden Häuser sind von Wald, Feldern und Seen umgeben. Die Winter sind hier lang und die Sonne kommt nur für ein paar Stunden hervor. Die Pfingstler, eine aus dem Herrenhuter Pietismus hervorgegangene, um das Zungenreden erweiterte Erweckungsbewegung, hatten gerade Schweden erobert, als Per Olov Enquist 1934 in Hjogböle zur Welt kam. Auch seine Mutter, die, wie er sagte, „einzigartig wichtigste Person in meinem Leben“, war Anhängerin der Pfingstler. Nachdem ihr Mann sechs Monate nach Per Olov Enquists Geburt gestorben war, zog die in der Dorfschule arbeitende Lehrerin ihren Sohn alleine auf.

Im Werk von Enquist hat beides, die gläubige Mutter und die nordschwedische Einsamkeit, tiefe Spuren hinterlassen. Es scheint, als wenn die Innerlichkeit der Erweckungsbewegung noch in seiner mit Wiederholungen arbeitenden, um einen inneren Kern kreisenden Prosa wiederzufinden ist. Ein Kern, der oft aus Gewissensqualen besteht, am eindrucksvollsten vielleicht erzählt in „Kapitän Nemos Bibliothek“ von 1991, dem Buch, das den Wendepunkt, die „Wiederauferstehung“ aus der Alkoholsucht für Enquist markiert. Geschrieben fast wie eine Beichte, bei der der Erzähler versucht, sich das Gefühl der Schuld von der Seele zu schreiben.

Enquist selbst hat den Einfluss der Pfingstbewegung auf sich und sein Werk immer wieder thematisiert. „Wir kamen nicht davon los“, heißt es in „Lewis Reise“, „würden nie davon loskommen, wie sehr wir es auch versuchten. Christi Blut, für dich vergossen.“ In einem seiner späten Romane, „Das Buch der Gleichnisse“, in dem er wie in „Ein anderes Leben“ unverschlüsselter als in den anderen Büchern von eigenen Erfahrungen und Erinnerung erzählt, spricht er das Gleichnishafte, die Parallelität biblischer Geschichten und der säkularen Entsprechungen in der Wirklichkeit und in den eigenen Romanen an. Den Glauben selbst hat er sich dann allerdings „wegstudiert“, wie es seine Mutter einmal ausdrückte. Hier liegt die Ambivalenz seiner Bücher begründet, die zwischen der Herkunft, dem Ursprung, und dem Bruch mit diesem Ursprung. Den Verrat an den Eltern, den jeder kennt. Denn jeder beginnt irgendwann, anders als sie zu denken und ein eigenes Leben zu führen. Wahrscheinlich ist es diese Ambivalenz, die den weltweiten Erfolg seiner Bücher, ihre Zeitlosigkeit ausmacht.

Enquist gehörte der ersten Generation in Schweden an, denen es in den weitläufigen ländlichen Gebieten des Landes ermöglicht wurde, auf einem Internat Abitur zu machen. Von 1955 bis 1964 studierte er in Uppsala Literaturwissenschaften. Gleichzeitig begann er mit ersten literarischen Versuchen im Stil des damals populären Nouveau Roman. Für die ersten Manuskripte, die er an verschiedene Verlage schickte, erhielt er jedoch nur Absagen. Erst 1961 dann erschien sein erster, nie ins Deutsche übersetzter Roman, „Kristallögat“ („Das Kristallauge“).

Neben der Literatur und dem Studium war es der Sport, der Per Olov Enquist einen Weg aus fundamentalistischem Glauben und provinzieller Enge bot. Als Hochspringer nahm er an nationalen und internationalen Meisterschaften Teil (Bestmarke 1,97 m). Am Ende jedoch siegte die Literatur. Dem Sport blieb er aber in seinen journalistischen Arbeiten treu, die er neben dem Literatur nie aufgegeben hat. Literarisch hat er sich vor allem in seinem 1971 erschienen Roman „Der Sekundant“ mit dem Thema Sport auseinandergesetzt. Ein Roman, der an Aktualität seitdem nichts eingebüßt hat. Im Gegenteil, die auf einen authentischen Fall zurückgehende Geschichte eines Hammerwerfers, der seinen Hammer manipulierte, erzählt aus der Perspektive seines Sohnes, ist dem heutigen Betrug durch Doping ganz ähnlich.

Wie fast alle Romane Per Olov Enquists ist auch „Der Sekundant“ ein politische Roman. So hat Enquist die während seiner Teilnahme an Sportwettkämpfen in der DDR und später als Sportreporter in Weißrussland gemachten Erfahrungen in den Roman einfließen lassen. Er kannte die politische Dimension des Sports und die Probleme, die sich damit verbinden. Aber auch seine Konkurrenz zur Religion. Nicht ohne Grund hatten die Pfingstler den Sport als „unnötig“ abgelehnt.

In Enquists Romanen spielen außerdem die Verlierer eine große Rolle. Zum Beispiel den an den Sägewerksarbeitern scheiternden sozialdemokratischen Agitator Johann Sangrid Elmblad in „Auszug der Musikanten“. Vielleicht hängt das einerseits mit seinem Gefühl als Hochspringer zusammen, nie die Marke von zwei Metern geschafft zu haben. Aber auch damit, dass Siegen wie Macht der antibürokratischen Pfingstbewegung als „hochmütig“ galt. Als Enquist Stück „Die Nacht der Tribaden“ an den Theatern weltweit Triumpfe feierte, meinte seine Mutter in einem Telefongespräch, er würde jetzt hoffentlich nicht hochmütig werden. Er antwortete darauf in der Er-Form erzählten Autobiografie „Ein anderes Leben“, „zum Glück, erklärt er ihr, ist seine Demut die größte im ganzen Land, eine Formulierung, die er fast bei Strindberg ausgeliehen hat und liebt. Er ermahnt sich auch kräftig.“ Es ist, als wären Enquists Helden immer die Letzten, die dann, am Jüngsten Tag, die Ersten sein würden. Aber auch das wäre ja schon wieder hochmütig – ein endloser, nicht aufzulösender Kreislauf.

Lange Jahre war Per Olov Enquist Alkoholiker. Erst Anfang der neunziger Jahre gelang es ihm nach mehreren erfolglosen Versuchen, die Alkoholabhängigkeit zu überwinden. In „Ein anderes Leben“, dass schon im Titel die Rimbaudsche Spaltung der modernen Identität („Ich ist ein Anderer“) enthält, beschreibt er ausführlich, wie das Schreiben von „Kapitän Nemos Bibliothek“ zu seiner Rettung beitrug. Seine damals noch lebenden Mutter machte es glücklich, dass er ihr sagte, bei dem Roman handle es sich um eine Wiederauferstehungsgeschichte.

Nach dem Weg aus der Abhängigkeit stieg noch einmal die Produktivität Per Olov Enquists und mit ihr sein weltweiter Ruhm. Fast jedes Jahr erschien ein neuer Roman, darunter der Bestseller „Der Besuch des Leibarztes“ über den Altonaer Arzt Johann Friedrich Struensee, der kurz vor der französischen Revolution faktisch König Dänemarks wurde, aufklärerische Reformen durchsetzte und dann hingerichtet wurde. Oder „Lewis Reise“, der Geschichte der Pfingstbewegung, erzählt anhand der wichtigsten Vertreter, Sven Lidman und Lewi Pethrus, die erst Freunde waren und dann Feinde wurden. Auch mit seinen Kinderbüchern um einen Großvater hatte er Erfolg.

In den historischen Romanen steht der Erzähler, wie der Autor in der Autobiografie „Ein anderes Leben“, immer wieder neben sich und beobachtet seine Tätigkeit. Das war schon in den frühen Büchern so gewesen und ist bis zu seinem letzten Buch so geblieben. Die Relativierung der Rolle des Erzählers und das damit infrage gestellte „so ist es gewesen“, wirkt gerade heute wieder modern. Dabei mindern die reflexiven Elemente nicht den Lesegenuss. Dass das gelingt, ist eine große Kunst, die wir heute, im Zeitalter der Emphatiker und der Kritiklosigkeit, mit Per Olov Enquist vermissen werden.

Zeit online, 26. April 2020.