Madame Nielsen: Porträts von den Deutschen und anderen Lebewesen

Die dänische Schriftstellerin Madame Nielsen ist ein Skandal. Der Mann, der einmal Claus Beck hieß und sich 2013 zur Frau erklärte, einer Frau, die, neben erfolgreichen Romanen seither immer wieder in Artikeln und Essays unerschrocken zeitgenössische Probleme angeht. Die den Leichen im Keller des Vergessens nachspürt, ob von Biografien oder von Ideen. Ein wandelnder Skandal, der der Wahrheit zuliebe gerne Grenzen überschreitet, um mit Humor und Ironie das bequem gewordene Denken wachzurütteln.

Dass das nicht ganz ohne Opfer abgeht, versteht sich von selbst. Der erste, der in ihrem neuen Buch, „Porträts von den Deutschen und anderen Lebewesen“, dran glauben muss, ist ein gewisser „Herr Hille“. Er hatte Madame Nielsen offenbar während einer längeren Abwesenheit seine Berliner Altbauwohnung als Unterkunft zur Verfügung gestellt. Und, wie es Madame Nielsens Art ist, die Identitäten jedweder Couleur wie ein neues Kleid überzustreifen, schlüpft sie kurzerhand in die des Herrn Hille. Weil sie ihn wenig oder gar nicht kennt, den Wohnungsschlüssel von jemand anderem übernommen hat, versucht sie sich seine/ihre Identität mit Hilfe der Wohnungseinrichtung zu rekonstruieren. Zunächst wären da mehrere Tausend Bücher, unter ihnen die Gesammelten Werke von Marx, Engels, Lenin, Mao und zahllose Bände über die sogenannte Dritte Welt. Bücher, die zum Teil auch in Madame Nielsens Bücherregal standen, als sie noch Claus Beck hieß. Auffälligerweise findet sich nichts über das 3. Reich und den Holocaust.

Aber nicht nur die Bücher erwecken das Interesse der Autorin. Im langen, dunklen Flur der Wohnung hängt auch ein Tryptichon, gemalt von einem afrikanischen Künstler. Es stellt wimmelbildartig eine belebte Szene in einem afrikanischen Dorf oder einer kleinen Stadt dar. Außer drei weißen Männern, die vor dem einzigen aus Stein errichteten Gebäude des Ortes stehen, befinden sich nur schwarze Menschen auf dem Bild. Alle drei sind offenbar Mitglieder einer Hilfsorganistion. „In der Dritten Welt“, so die Deutung von Madame Nielsen, „sollte die Neue Welt und dessen utopische Weltordnung stattfinden, in den ehemaligen Kolonien sollte sich die Revolution, zu der Marx, Engels, Lenin, Mao, Fanon und Che den Weg vorausgeschrieben hatten, materialisieren, das war the white man’s, der ich also war, Verantwortung und burden, er und also ich waren wortwörtlich, und sogar bildlich dargestellt, der Steuermann in dem Boot seiner, also meiner, kleinen Gruppe oder revolutionären Zelle“.

Aber Madame Nielsen interessiert sich nicht nur für diese, ihr nur zu bekannt vorkommende Geschichte der Linken, sondern auch für das Andere, das ihr Fremde, das Identitätsdenken. „Für ein Wesen wie mich, das etliche Leben damit verbracht hat, alle möglichen Identitäten auszuprobieren und mich von ihnen zu befreien, hat die Behauptung, dass es eine besondere deutsche oder dänische Seele gibt, alle Welt sich in »Völker« einteilen lässt und beispielsweise nur Afro-Amerikaner das historische Leid der Afro-Amerikanern schildern dürfen, ja, dass es überhaupt so etwas geben soll wie ein stabiles, authentisches »wir« etwas faszinierend Fremdes.“ Um auch hier ihren Horizont zu erweitern, trifft sie in einem Café ein junges Paar aus der Identitären Bewegung. „»Kein böses Wort!«, sage ich, »eure Visionen, ich will eure Visionen«.“ Die Antworten, die die beiden dann geben, fallen ernüchternd, aber auch erschreckend harmlos aus. Auch den AfD-Hofphilosophen Marc Jongen trifft Madame Nielsen, und auch er hat zwar viel dazu zu sagen, was alles schiefläuft in Deutschland und Europa, aber wenig, was er und die AfD eigentlich wollen.

Die mit diesen Treffen einhergehende Dekonstruktion rechter, aber auch linker Ideologien ist für den Freund von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in diesen, nicht gerade zu Optimismus Anlass gebenden Zeiten, erfrischend. Die Fragen, die sich aus dem Problem solcher Vereine wie der AfD und der Identitären ergeben, sind natürlich weit umfassender. Aber Madame Nielsen trifft in ihrem Buch mit ihren Beobachtungen und Kommentaren immer wieder einen Nerv, auch wenn das manchmal wehtut. In ihrer zwischen journalistischer Neugier und künstlerischer Performance oszillierenden Art holt sie Dinge ans Tageslicht, die gerne übersehen oder verschwiegen werden. Dass die mäandernden Sätze einiger Texte den Leser nicht immer dort abholen, wo er sprachlich gerade steht, kann man auf zweierlei Art deuten: als Herausforderung, durch gebotene Konzentration auf den Text im Gedanken zu bleiben oder aber man interpretiert den sprachliche Manierismus als Teil der Identität von Madame Nielsen. Denn ein identitäres Chamäleon bleibt eben ein Chamäleon und muss sich an irgendetwas festhalten.