Karsten Krampitz: Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung

Eines der intensivsten, vielleicht das intensivste Gefühl von Freiheit ist der Moment der Befreiung. Was für ein Gefühl der Euphorie und des Glücks als die Mauer fiel! Andererseits gibt es auch die Freiheit in der Unfreiheit. Davon erzählt Karsten Krampitz in seinem neuen – um es vorweg zu nehmen – großartigen Roman „Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“. Mitten in der DDR, in einem abgelegenen kleinen Dorf in Thüringen, blühen darin Freiheit und Glück. Und das ausgerechnet für im Rollstuhl sitzende Schwerbehinderte und vom Staat drangsalierte Außenseiter. Eine Geschichte, die auf wirkliche Begebenheiten zurückgeht.

Aber der Reihe nach. Zu Beginn waren es vier Insassen des Marienstifts in Arnstadt, alle schwerstbehindert. Der große Bruder des Erzählers hat Spastik; eine Frau und zwei Männer sitzen im Rollstuhl und leiden unter progressiver Muskeldystrophie, einem genetischen Defekt, bei dem sich die Muskeln im Körper zurückbilden und damit die Lebenserwartung verkürzen. Spiritus Rektor der Gruppe ist der studierte Theologie Marko Grunstetter, genannt Gruns, der in Wirklichkeit Matthias Vernaldi hieß. Da das Marienstift in Kirchenträgerschaft ist, überzeugt Gruns den zuständigen Superintendenten mit einem theologisch gewürzten Brief, ein leer stehendes Pfarrhaus in Hartroda, einem winzigen Weiler auf dem Thüringer Land, für eine Behindertengemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Mitte der 1970er Jahre ziehen dann die vier mit zwei Pflegern, zwei „Latschern“, dort ein. Finanziert wird das Ganze durch die Pflegebeiträge und im Westen gesammelte Spenden, die Gruns diskret vom Superintendenten bei seinen regelmäßigen Besuchen in einem Umschlag überreicht bekommt. „Geld ist nur Mist, sagte Gruns. Auf diesem Mist aber wachsen die Blumen und Bäume der Freiheit.“

In den Räumen der Kirche waren damals Dinge möglich, die sonst nicht denkbar waren. Bei den Rüstzeiten, die die Kommune Hartroda regelmäßig veranstaltete, wurde so frei diskutiert, wie es sonst im real existierenden Sozialismus, von allen „Resoz“ genannt, nicht möglich war. Klar, dass diese Freiheit in Hartroda nicht lange unentdeckt blieb. Ende der 1970er Jahre tauchten dann die Musiker der Band „Mischpoke“ auf, eine Bluesrockband, die die zum Pfarrhaus gehörende Scheune als Probenraum nutzte. „Ich hab meine Sache auf nix gestellt / auf gar nix / auf überhaupt nix“, hieß es einem ihrer Songs. Mit der „Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“ gehen die Musiker ein Zweckbündnis ein: Für Unterkunft und Übungsräume übernehmen sie Arbeiten für die körperlich eingeschränkten Mitglieder der Kommune. Menschen, die nicht viel Zeit hatten, weil ihnen die Kräfte schwanden. „»Wir haben keine Zeit« war in Hartroda ein geflügeltes Wort. Und jeder Tag war ein Geschenk.“ Abgesehen davon, dass niemand wusste, wie lange das freie Leben vom Staat noch geduldet werden würde.

Ein Leben, dass nicht einfach war. Die Rollis mussten jede Nacht alle zwei Stunden umgedreht werden, damit sie sich nicht wundliegen. Morgens wurden sie gewaschen und auf die Toilette getragen. „Wenn Gruns … bis zum späten Vormittag im Bett liegen musste, mit Verlaub, in seiner Pisse“, schreibt Krampitz, „weil jemand anderes so frei war, hackevoll den Tag zu verpennen, dann hatte das mit Freiheit wenig zu tun; … Freiheit ist, wenn Menschen, die einander brauchen, anders miteinander umgehen.“ Nicht alle kapierten das in dem offenen Haus, das in Hartroda geführt wurde. So bediente sich jemand an den Geldvorräten der Kommune. War es einer von den Rüstzeiten oder waren es die Punks, die immer wieder zu Gast waren? Geklärt wurde es nie.

Die Behindertenkommune Hartroda, von der Krampitz in seinem furios geschriebenen Roman erzählt, steht paradigmatisch für die Nischen von Außenseitern und Unangepassten, die es in der DDR gab. Wie in Lutz Seilers Roman „Kruso“, in dem sich an der Spitze von Hiddensees in der Gasstätte „Zum Klausner“ eine Gruppe von Außenseitern als Saisonkräfte trifft, erzählt er von Momenten der Freiheit und des Glücks inmitten der real existierenden Diktatur. Deren Untergang 1989 war dann nicht nur eine Befreiung, sondern schuf auch neue Probleme, die die Freiheit wieder in Frage stellten. Mit dem Wegfall der Außenseiterrolle der nicht behinderten Bewohner wurde das Zweckbündnis zwischen Musikern, Pflegern und Behinderten brüchig. Schließlich wollten auch die Latscher die neue Freiheit ausprobieren, waren nicht mehr auf die in Hartroda angewiesen.

Karsten Krampitz gelingt es in „Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“ von der ersten bis zur letzten Seite sprachlich originell zu bleiben. Mit Ironie und Witz erzählt haben selbst die Kalauer in seinem Roman in ihrer Sinnlosigkeit noch einen Sinn, ist es doch sinnlos, arbeitsunfähige Schwerbehinderte und Musiker, die sich den verordneten künstlerischen Vorgaben des Resoz widersetzten, für den Aufbau des Sozialismus einzusetzen: „Ich habe meine Sache auf nix gestellt / auf gar nix / auf überhaupt nix.“ Dass es am Ende dann auch Überraschungen gibt, mit denen niemand gerechnet hatte, wundert einen vielleicht nur heute.