Lea Ypi: Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme

Was sagt ein Foto über einen Menschen aus? Was kann man über ihn wissen, wenn er nicht mehr lebt? Und: Ist es zulässig über ihn zu urteilen, obwohl er sich nicht mehr verteidigen kann? Fragen, die sich Lea Ypi in ihrem neuen Buch „Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme“ stellt. Anlass für das Buch war ein Foto, das in den sozialen Netzwerken aufgetaucht war. Es zeigt die Großeltern der albanisch-britischen Philosophin Leman und Asllan Ypi 1941 in Cortina in den italienischen Alpen. Lea Ypi kannte das Foto nicht, das die beiden auf Liegen vor einem Luxushotel zeigt, aber sie kannte die Geschichte dazu. Es war ein Foto von der Hochzeitsreise ihrer Großeltern, „der schönsten Zeit meines Lebens“, wie Leman ihrer Enkelin sagte. Immer wieder erzählte sie von dieser Reise. Aber ließ sie, fragt sich Lea Ypi, 1941, Mitten im Krieg, all das Leid, all der Tod völlig kalt? „Ihre Erinnerungen an Cortina widersprachen meinem Bild von ihr als einer Heiligen. Sie war pflichtergeben und mitfühlend, und immer stellte sie die Bedürfnisse der anderen über ihre eigenen.“

Leman Leskovicu, so der Mädchenname von Lea Ypis Großmutter, wurde in Saloniki im osmanischen Reich geboren. 1941 heiratete sie Asllan Ypi, dessen Vater Xhafer 1939 als Ministerpräsident Albanien kampflos dem faschistischen Italien übergab. In „Frei“ beschreibt Lea Ypi wie sie in der Schule immer behauptet hat, nicht mit ihrem Urgroßvater Xhafer verwandt zu sein, weil er in der Zeit des Kommunismus als Verräter galt. Dabei hatte Albanien in den 1930er Jahren keine nennenswerte Armee und es wäre für einen Widerstand gegen die übermächtigen Italiener nur unnötig Blut vergossen worden. Lea Ypis Großvater Asllan, der eher sozialdemokratische Ansichten vertrat, war wiederum ein Studienfreund des späteren stalinistischen Diktators Albaniens, Enver Hoxhas. Beide hatten in den 1930er Jahren in Paris studiert. Nach dem Sieg der Kommunisten am Ende des 2. Weltkrieges ließ ihn Hoxha jedoch gnadenlos verhaften und für fünfzehn Jahre ins Gefängnis sperren. Und das in einer Zeit, in der seine Frau nicht nur ein kleines, kränkelndes Kind, Lea Ypis Vater, sondern auch noch ihre krebskranke Mutter zu versorgen hatte.

Aber war das, was sie von ihrer Großmutter erfahren hat, wirklich alles? Lea Ypi fährt zu den Archiven nach Tirana und Thessaloniki in der Hoffnung, mehr herauszufinden. Das Archiv der albanischen Stasi, der Sigurimi, ist wie das deutsche Pendant inzwischen für die Öffentlichkeit zugänglich. Doch dort findet sie aber nur mehr oder weniger Nichtssagendes: endlose Überwachungsprotokolle, die den Tagesablauf von Asllan und Leman Ypi detailliert beschreiben. Wen sie getroffen haben, wohin sie gegangen sind. Historiker, denen Ypi davon erzählt, wundert das nicht. „Das am besten gehütete Geheimnis der Archive“, sagen sie ihr, „ist das, was man nicht findet“.

Aus diesem Grund erzählt Lea Ypi die Geschichte ihrer Familie weitgehend als Roman. Neben den Erfahrungen in den Archiven und der eigenen Erinnerung ist „Aufrecht“ ein Buch, das nicht schildert, „wie es war“, sondern „wie es gewesen sein könnte“. Ypi erzählt von dem, was sie in den Archiven findet und dem, was ihrer Großmutter erzählt hat und reflektiert es kritisch. Der Ausgangspunkt dabei ist das osmanische Saloniki, das heutige Thessaloniki, wo die Ypis als reiche Grundbesitzerfamilie gelebt haben. Schon die Generation ihrer Urgroßeltern kennen zwar noch ihre albanische Herkunft, ihren Lebensmittelpunkt aber haben sie in der damals noch multikulturellen Stadt. Bereits der Ururgroßvater Ypis, ein hoher Beamter und Berater des osmanischen Sultans, hatte sich aus dem Land seiner Vorfahren entfernt. Und so war die Sprache der Familie, wie in der ganzen osmanischen Oberschicht, nicht albanisch, sondern Französisch. Französisch, das Leman noch mit ihrer Enkelin sprach, im kommunistischen Albanien, lange nach dem Ende des osmanischen Reiches.

„Aufrecht“ ist wie „Frei“ ein spannendes Buch, das den Leser mit vielen Details der Geschichte des osmanischen Reichs und seinem Zerfall bereichert. Vor allem aber erzählt es von einer Familie, die eng mit der Entwicklung Albaniens im zwanzigsten Jahrhundert verbunden ist. Allgemeine Fragen nach Wahrheit, Freiheit und Verantwortung entwickeln sich dabei wie von selbst. Dass Lea Ypi viele ihrer Fragen offen lassen muss, ist eine Wahrheit dieses Buches, vielleicht die wichtigste. Am Ende geht sie sogar noch weiter und fragt sich angesichts der toten Vorfahren: „Wollen sie lieber vergessen werden? Manipuliere ich sie, täusche ich die Menschen in ihrem Namen? Und die allergefährlichste Frage: Bedeutet Kultur nicht immer, die Toten ohne ihre Einwilligung in unsere Welt zurückzubefördern?“