In einem Interview hat Rachel Kushner einmal gesagt, dass sie sich besonders für Menschen interessiert, die auf „des Messers Schneide“ leben. In „Flammenwerfer“, dem ersten Roman der wohl interessantest US-amerikanischen Autorin, sind es Rennfahrer, die auf einem Salzsee in Utah mit ihren Raketenautos Geschwindigkeitsrekorde aufstellen und dabei riskieren, in ihren rasenden Zigarren zu verbrennen. „Ich bin ein Schicksal“ handelt von Frauen, die aufgrund des unmenschlichen amerikanischen Gefängnissystems gezwungen werden, ihr Leben hinter Gittern zu verbringen. In „See der Schöpfung“, ihrem neuen Roman, ist die Heldin und Erzählerin eine ehemalige Geheimagentin, die für private Auftraggeber als V-Frau arbeitet, unter der ständigen Drohung aufzufliegen.
Dass es bei ihrem Job oft nicht beim „Aushorchen“ bleibt, war ihr als Undercover-Agentin des FBI zum Verhängnis geworden. Der Anwalt eines ihrer Bespitzelungsopfer konnte vor Gericht die Geschworenen davon überzeugen, dass sein Mandant zu der von ihm begangenen Straftat angestiftet worden war. Als er freigesprochen wird, kommt es zum Skandal, in dessen Folge sie als Bauernopfer entlassen wird. Seitdem arbeitet sie für private Auftraggeber, froh, dass es hier – im Gegensatz zur Polizei – „keine Supervisoren gab, keine Logbücher und keine Regeln.“
Für ihren neuen Auftrag soll sie sich in eine linke Kommune in Guyenne, einer abgelegenen Region im Südwesten Frankreichs, einschleichen und herausfinden, was die Kommunarden gegen den Bau von riesigen Wasserreservoirs geplant haben. Die Reservoirs sollen die monokulturelle Landwirtschaft vorantreiben und bedrohen die Existenz der kleinen Bauern. Als „Sadie“ beginnt sie zunächst eine Liebesbeziehung zu Lucien, einem Pariser Freund von Pascal Balmy, dem charismatischen Kopf der Kommune in Guyenne. Während Lucien, der Regisseur ist, noch an seinem neuen Film in Marseille arbeitet und später nachkommen will, fährt Sadie als seine amerikanische Freundin vorweg zu den Kommunarden.
Rachel Kushners Erzählerin ist keine besonders sympathische Figur. Skrupellos ist sie zu fast allem bereit. Im Gegensatz zu A.L. Kennedys Roman „Als lebten wir in einem barmherzigen Land“, in dem die Geschichte der Unterwanderung einer anarchistischen Theatertruppe durch einen Agenten der britischen Polizei aus der Perspektive eines seiner Opfer erzählt wird, erzählt Kennedy aus der des Täters. Aber beide Autorinnen sind von demselben realen Fall inspiriert, dem britischen V-Mann Mark Kennedy, der von 2002 bis 2009 im Auftrag von Scotland Yard in ganz Europa zu Frauen in der linken Szene Liebesbeziehungen aufgebaut hatte, um dann nicht nur Berichte für die Polizei zu schreiben, sondern auch zu Straftaten anzustacheln. Kushners Perspektive des Täters hat den Vorteil, dass dem Leser die Einteilung in Gut oder Böse, richtig oder falsch schwerer fällt. Wenn man so will, hat diese Erzählerposition etwas von der Autorin selbst, die ja mit der Schilderung des Innenlebens ihrer Figuren diese ja praktisch auch „aushorcht“.
Neben der Agentenstory gibt es noch ein weiteres wichtiges Element in „See der Schöpfung“. Es sind die E-Mails von Bruno Lacombe, dem Spiritus Rector der Kommune, dessen Figur sich an den linken französischen Philosophen, Filmemacher und Aussteiger Guy Debord anlehnt. Debord hatte sich, nach der Ermordung seines Freundes und Verlegers Gérard Lebovici, in eine abgelegene Gegend in der Auvergne zurückgezogen. In „See der Schöpfung“ zieht sich Lacombe nach dem Unfalltod seiner Tochter in die Dunkelheit einer Höhle zurück, dessen Eingang er auf seinem Land in Guyenne entdeckt hatte. In E-Mails an Pascal Balmy gibt er der Kommune Ratschläge und schreibt über seine Auffassung von Geschichte, Politik und Philosophie. Sadie hackt den Account von Balmy und zitiert aus den E-Mails Lacombes.
Es sind Mails, in denen Komik, Tragik, Wahnsinn und Wahrheit nah beieinander liegen. Am Anfang lacht man über die schrägen Thesen Lacombes, zum Beispiel über seine Spekulationen über den Neandertaler. Im Vergleich zum Homo Sapiens, schreibt er, der sich tragischerweise im Laufe der Menschheitsgeschichte durchgesetzt habe, seien sie mit ihrem größeren Gehirn der originellere, intelligentere Zweig in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gewesen. Allerdings neigten sie „zur Depression. Sie neigten auch zur Sucht und insbesondere zum Rauchen.“ Gleichzeitig blitzen immer wieder bedenkenswerte Gedanken in den E-Mails Lacombes auf. „Um zu verstehen, wo wir falsch abgebogen seien“, schreibt er, „habe er sich mit Gattungen beschäftigt. Er habe geglaubt, das Leben sei »früher besser« gewesen, und beginne jetzt zu ahnen, dass dies eine Art umgekehrter Teleologie sei, eine Mystifizierung der Vergangenheit einschließlich der Ansicht, Fortschritt sei schlecht, ja Fortschritt selbst sei überhaupt kein Fortschritt.“ Manchmal sieht er von seiner extremen Außenseiterposition in der Dunkelheit seiner Höhle Dinge, die im normalen Leben niemand erkennt. Genauso wie Sadie aus ihrer Position als infiltrierte Agentin eher die Widersprüche in der Kommune auffallen. Aber man spürt schon zu Beginn des Romans, dass sie die Distanz zu den Ideen Lacombes und zu den Kommunarden – anders als sie sich einzureden versucht – nicht völlig aufrechterhalten kann.
Rachel Kushner erzählt in „See der Schöpfung“, der wie ihre anderen Romane wieder von Bettina Abarbanell in ein adäquates, flüssiges Deutsch übersetzt wurde, immer wieder ironisch vom Milieu der Pariser Eliten, der Bauern und Kommunarden. In dieser Hinsicht ist der Höhepunkt des Romans die Persiflage von Michel Houllebecq, der am Ende als Begleitung eines hohen Beamten aus dem Landwirtschaftsministeriums auf einer Landwirtschaftsmesse auftaucht. Wie Tschechow, der meinte, ein Schriftsteller solle nicht Stellung beziehen, sondern die Welt so beschreiben, wie sie ist, erzählt Rachel Kushner in „See der Schöpfung“ die Geschichte mit gebotener Distanz, ohne dass sie die Sympathie für ihre Protagonisten jemals ganz verliert. Dass es der amerikanischen Autorin gelingt, all ihre Themen, Figuren und Geschichten plausibel in ihrem Roman zusammenzuführen und ihn gleichzeitig zu einer spannenden, anregenden Lektüre machen kann, dass ist eine große Kunst.