„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise“, heißt es in Tolstois „Anna Karenina“. Auch in „Die Familie“, dem neuen Roman der spanischen Schriftstellerin Sara Mesa, hat das Unglück einen ganz eigenen Charakter. Doch sind es nicht, wie bei Tolstoi, die gesellschaftlichen Zwänge, die ins Unglück führen. Es ist auch kein gewalttätiger, alkoholisierter Vater, der die Familie terrorisiert. Im Gegenteil, das Familienoberhaut in Sara Mesas Roman ist Anhänger von Gandhis Philosophie der Gewaltlosigkeit. Aber auch er bestimmt das Leben seiner Frau und seiner Kinder, nur auf eine zivilisiertere, subtilere Art. Die Mutter unterstützt ihn dabei und die vier Kinder, Damián, Rosa, Aquinino und Martina folgen dem Familienregime, kennen sie doch nichts anderes. „Du lebst in einer Blase!“, sagt Clara, eine Nachbarin, zu Damián. Auf dem Weg zur Uni, im Bus, waren sie ins Gespräch gekommen.
Es ist eine Blase, in der Disziplin und Verzicht herrscht. Der Vater zwingt Damián nicht, er „bittet“ ihn, seine heimlich angelegte Comicsammlung zu zerreißen und wegzuwerfen, weil Comics, wie er meint, „für sein Alter viel zu kindlich“ sind. Es ist „verdammt schwierig“, erklärt Damián Clara, „sich dem zu widersetzten“. Als die Kinder noch kleiner waren, verbessert er ständig ihren Ausdruck. Und die Wohnung haben sie nur für die Schule verlassen. Nie durften sie mit den Nachbarskindern unten auf der Straße spielen. Die Mutter sagt, sie hätten vier Kinder bekommen, damit die dann miteinander spielen können und „nicht in Versuchung gerieten, auf der Straße nach Ablenkung zu suchen.“
Das erste, nur etwas mehr als eine Seite lange Kapitel ist deshalb der Wohnung gewidmet. „Schau sie durch das Traumauge an. Der Flur als geographisches Zentrum, als Grenze. Zu beiden Seiten Zimmer.“ Wer genau spricht, ist nicht klar. Ist es Martina, die erst später in die Familie gekommen ist, weil ihre Eltern gestorben sind und sie von ihrem Onkel und ihrer Tante adoptiert wurde? Oder Damián, der Älteste? Am plausibelsten scheint ein anonymer Erzähler, der einerseits über alles Bescheid weiß, andererseits die Familienmitglieder aus einer gewissen Distanz betrachtet. Immer wieder spricht er von „uns“, so, als würde eines der vier Kinder erzählen.
Vielleicht ist es das, was den Leser so schnell in den Text zieht: Das „wir“, der vertraute familiäre Ton, mit dem Sara Mesa erzählt. Er stellt eine Atmosphäre her, die jeder aus der eigenen Kindheit kennt. In der es auch um die Widersprüche zwischen der eigenen kindlichen Privatsphäre, der Familie und deren Verhältnis zur Außenwelt geht. Nur das Sara Mesas Familie ein Extremfall ist. Ein Beispiel dafür wird ganz am Anfang erzählt, als Martina gerade in der Familie aufgenommen worden ist. Weil sie den Buchdeckel so schön fand, hatte sie sich ein Notizbuch mit einem kleinen Schloss gekauft. Der Vater vermutet, dass sie ein Tagebuch schreiben will. Nein, es sei nur ein Notizbuch, sagt Martina, als er sie danach fragt. Doch am Wohnzimmertisch, an dem sich die Familie immer versammelt, um zu lernen oder etwas anderes zu arbeiten, wo jeder jedem über die Schultern sehen kann, fordert der Vater sie auf, darin zu schreiben. Martina fängt an, über das zu schreiben, was gerade passiert. Der Vater, der die Macht hat, verbietet nicht. Er fordert Martina dazu auf, zu schreiben, um vielleicht dadurch etwas über ihr Inneres zu erfahren. Die Macht ist hier – frei nach Michel Foucault – produktiv. Schreiben als Mittel der Kontrolle.
Aber wie sollte es anders sein, trotz aller Abschottung dringt immer wieder das Leben in die Familie ein. Da ist zum Beispiel der Onkel, der so anders ist, als die Eltern. Ein lebenslustiger Mann, der raucht und trinkt, der ungebildet ist und die Kindern bei seinem Besuch großzügig mit Dingen beschenkt, die eigentlich verboten sind. Er provoziert gerne, was zu Streit führt, und stellt damit das Familienregime in Frage. Auch wenn Sara Mesa später von den Folgen erzählt, die die erwachsenen Kinder mit sich herumschleppen, ist „Die Familie“ in dieser Hinsicht ein Bildungsroman, der von der Emanzipation aus der Enge der Herkunft handelt.
Sara Mesa ist keine große Sprachkünstlerin, aber sie hat ein gutes Gespür für das erzählerische Timing und die Psychologie ihrer Figuren. Nie verliert sie die Sympathie für ihre unglücklichen Protagonisten. Das gilt selbst für den Vater, bei dem der Leser zwar nicht erfährt, warum er gegenüber der Familie so rigide Ansprüche hat, dessen Unglück am Ende jedoch ebenfalls deutlich wird. Ein Roman, über den man noch lange nachdenkt.