Suzumi Suzuki: Die Gabe

Die namenlose Erzählerin in Suzuki Suzumis Roman „Die Gabe“ arbeitet in Kabukichō, dem Rotlichtviertel Tokyos. In einer Bar bringt sie als Animierdame, als sogenannten „Host“, die Gäste dazu, die überteuerten Getränke zu bestellen. Je mehr sie bestellen, desto mehr verdient sie. Doch obwohl es dabei nicht um Sex geht – Prostitution ist in Japan verboten -, verkaufen die Frauen, die als Host arbeiten, ihren Körper. Denn je schöner sie sind, desto öfter setzen sich Gäste zu ihnen und bestellen Getränke, desto mehr verdienen sie.

Vieles in „Die Gabe“ erinnert an Sylvia Plath‘ „Die Glasglocke“. Wie bei Plath spürt die Erzählerin eine unüberwindbaren emotionale Distanz gegenüber anderen Menschen. Einen Freund hat sie nicht und auch keine wirklichen Freundinnen, auch wenn sie sich mit Eri, einer Kollegin, immer mal wieder trifft und telefoniert. Als Eri Suizid begeht, fällt ihr bei der Beerdigung als erstes ihr Hund ein. „Wie seltsam, dass mir ihr Hund in lebendigerer Erinnerung geblieben war als Eri selbst, obwohl ich so viel Zeit mit ihr verbracht, geredet und telefoniert hatte.“ Letztlich ist das Einzige, woran sie sich festhalten kann, das gewohnte Klacken des Schlosses, wenn sie nach getaner Arbeit frühmorgens ihre winzige Wohnung aufschließt.

Auch zur Mutter, die die Erzählerin allein großgezogen hat, ist ihr Verhältnis distanziert. Bereits mit siebzehn war sie zu Hause ausgezogen und hatte sie nur hin und wieder getroffen und mit ihr telefoniert. Als die Mutter unheilbar an Krebs erkrankt, zieht sie bei der Erzählerin ein. Kurz darauf muss sie jedoch wieder ins Krankenhaus, wo die Erzählerin sie dann jeden Tag besucht. Sie beginnt über ihre eigene und die Geschichte ihrer Mutter nachzudenken. Immer wieder denkt sie über die „Gabe“ nach, ihre körperliche Schönheit. Eine zufällige, unverdiente Eigenschaft, ein Geschenk, dass das Leben eigentlich einfacher machen sollte. Aber schon die Mutter hatte, um unabhängig zu bleiben, ihre Schönheit dazu genutzt und war in Kabukichō leicht bekleidet in einem Nachtclub als Sängerin aufgetreten. In der patriarchalen japanischen Gesellschaft gab es außer heiraten nicht viele andere Möglichkeiten für sie. Nach der Geburt ihrer Tochter, der Erzählerin, muss sie sich dann mehr schlecht als recht mit Sprachunterricht durchschlagen.

Der Mann, den die Mutter geliebt hat, der Vater der Erzählerin, war verheiratet und wollte sich nicht von seiner Frau trennen. Das zumindest sagt der Tochter ein alter, reicher Verehrer ihrer Mutter, den sie im Krankenhauses trifft. Er erzählt ihr auch von dem Nachtclub, in dem die Mutter aufgetreten ist, und den er so oft wie möglich besucht hat, um sie zu sehen. Er traf sich mit ihr, machte ihr Heiratsanträge, aber sie wollte nicht. „Ihre Mutter wirkte so stolz“, sagt der Mann. „Aber sie war einfach zu gut. Sie hätte mich, naiv, wie ich war, in den Ruin treiben können, aber sie tat es nicht. … Sie wolle keine Hilfe, sagte sie.“

Auf tragische Weise wechseln Opfer und Täter in „Die Gabe“ die Seite. Gleichzeitig bleibt Suzukis Protagonisten immer eine gewisse Freiheit der Entscheidung. Die implizite Kritik des Romans richtet sich deshalb mehr an die patriarchale Kultur in Japan als an die einzelnen Figuren, die von diesem System geprägt wurden. Suzukis Protagonisten bleiben so Subjekte und werden nicht als reine Opfer zu passiven Objekten degradiert. Dort, wo die Mutter die Freiheit der Entscheidung hatte, wird gleichzeitig deutlich, warum sie so gehandelt hat. Die Fehler, die ihre Tochter ihr buchstäblich im letzten Moment vorwirft, sind nicht wiedergutzumachen; aber die Erzählerin, und mit ihr der Leser, kann die Ursachen für diese Fehler erkennen und damit besser mit den Folgen leben.

„Die Gabe“ ist schmaler Roman, in einer schlichten Schreibweise erzählt. Es ist ein feministischer Roman über die strukturellen Nachteile von Frauen in Japan. Aber er hält gleichzeitig durch seine differenzierte, mit wenig Psychologie auskommende Schreibweise die Mutter-Tochter-Geschichte so offen, dass sie universellen Charakter bekommt. Die Glasglocke, in der die Erzählerin lebt, könnte man mit Freud auch als narzisstische Störung beschreiben, bei der das Problem darin besteht, emotional anderen Menschen nicht näher zu kommen. Es ist ein Problem unserer Zeit, das sich unter anderem in Empathielosigkeit äußert, die nicht zuletzt, wie Suzumi Suzuki in ihrem berührenden Roman zeigt, in Gewalt enden kann.