Can Xue: Schattenvolk

Bereits Susan Sonntag hielt Can Xue für Chinas größte Chance auf einen Literaturnobelpreis. Bei der englischen Wettplattforms Ladbrokes stand sie dieses und letztes Jahr an der Spitze. Ihr Roman „Liebe im neuen Jahrtausend“ schaffte es 2022 auf die Shortlist des Internationalen Literaturpreises. Trotzdem ist die chinesische Autorin hierzulande noch weitgehend unbekannt. Und scheint damit ein Beleg zu sein, dass es in der Weltliteratur immer wieder neue und großartige Autoren zu entdecken gibt.

Can Xue wurde unter dem Namen Deng Xiaohua 1953 in Changha, Südchina in einer Intellektuellenfamilie geboren. Während des „Großen Sprungs nach vorn“ Ende der 1950er und abermals während der Kulturrevolution Ende der 1960er Jahre wurden ihre Eltern zur Umerziehung aufs Land deportiert. Aufgrund der Folgen von Maos „Großem Sprung“, der China innerhalb kürzester Zeit von einem Agrarland in eine Industrienation verwandeln sollte, verhungerte ihre Großmutter wie nach Schätzungen 15 bis 55 Millionen andere Chinesen. Wegen der Verurteilung ihrer Eltern bekam Can Xue nur eine rudimentäre Ausbildung, begann aber auf Anregung ihres Vaters vor allem westliche und russische Literatur zu lesen.

Die Übersetzung des Pseudonyms Can Xue bedeutet sowohl dreckiger, matschiger wie auch reiner, weißer Schnee. Eine Doppeldeutigkeit, von der auch die Erzählungen in Can Xues jetzt erschienen Band „Schattenvolk“ geprägt sind. In den „Geschichten aus dem Slum“ erzählt ein nicht genauer beschriebenes Wesen, das sich selbst weder als Ratte, noch Maus fühlt, aber von den Menschen als solche bezeichnet und vor allem behandelt wird, von seiner prekären Existenz in den Häusern hinterm Ofen, von der Unberechenbarkeit der Menschen, die es mal liebevoll wie ein Haustier, mal als Ungeziefer behandeln oder beides gleichzeitig. Wird es hinausgeworfen, sucht es sich ein neues Haus mit Ofen.

„Ich habe vergessen, die Häuser zu erwähnen“, sagt das Wesen. „Sie sind alle miteinander verbunden und in langen Reihen angeordnet. Haben diese Menschen ihre Häuser vielleicht aus Angst so gebaut?“ Dem Leser wird schnell klar, dass viele von Can Xues Erzählungen Allegorien sind. Hier wird vergangene und gegenwärtige chinesische Realität in Fabeln und fantastischen Erzählungen verarbeitet. Wer außerdem bei der Lektüre an Kafkas „Josephine und das Volk der Mäuse“ oder „Beim Bau der chinesischen Mauer“ denkt oder auch an die Erzählungen von Jorge Luis Borges, liegt ebenfalls richtig. Can Xue bewundert Borges und hat Kafka nicht nur übersetzt, sondern auch ein Buch zu ihm veröffentlicht. Wenn Elias Canetti von Kafka meinte, er sei der einzige chinesische Autor deutscher Sprache, dann könnte man von Can Xue sagen, sie sei die kafkaesteste Autorin Chinas.

In „In der Nachbarschaft des Menschen“ erzählt eine Elster von einem verwilderten Park, in dem sie an einem Teich auf eine Frau trifft, die dort auf einer Steinbank sitzt. „Welche Verbindung gab es zwischen ihr und dem Teich? Waren ihre Kinder darin ertrunken? Oder wollte sie sich selbst darin ertränken. Mir war ihr Blick immer unheimlich, doch meine Frau teilte dieses Gefühl nicht. Sie sagte, die Fremde sei sehr gebildet und empfindsam. Das Gefühl meiner Frau trog nie.“ Aber dann fällt die Frau ohnmächtig von der Bank. Die Elster fliegt ganz aufgeregt zu ihr. Als die Frau erwacht, greift sie nach ihr und hält sie eine Zeit lang unter Wasser. In „Das alte Haus“ kehrt Zhou Yizhen in ihr vor zwanzig Jahren wegen einer schweren Krankheit zwangsweise verkauftes Haus zurück und trifft dort auf eine Frau, die nicht nur ihren Namen in Zhou Yizhen geändert hat, sondern ihr ganzes Leben, ihre gesamte Identität angenommen hat.

Oft lassen sich an Can Xues Erzählungen nur einzelne Elemente deuten. Wie bei Kafka oder Borges bleiben sie im Ganzen rätselhaft. Vielleicht faszinieren sie den Leser gerade deshalb und ziehen ihn unwillkürlich in den Text. In den düsteren Geschichten gibt es immer wieder Lichtblicke. In „Glück“ steht „Frau Magister Wen“ nachts vor dem offenen Fenster ihres Zimmers als plötzlich alle möglichen Schatten in den halbdunklen Raum fliegen. Schatten mit denen auch die Toten der Vergangenheit, die Toten des Größenwahns von Mao und kommunistischer Partei gemeint sein könnten. „Frau Wen spürte, wie ihr Körper sank, während die Decke und die vier Wände nach draußen auseinanderstoben. Doch sie schwebte nicht in der Luft, sondern stand fest auf der Erde, und alle Dinge ringsum strömten auf sie zu – erstickten sie aber nicht, sondern im Gegenteil, bescherten ihr ein Gefühl ungehinderter Freude.“ Freude zu leben, Freude ihnen als Autorin eine Stimme geben zu können?

Neues Deutschland, 5. Februar 2025