Anlässlich der Veröffentlichung von „James“, dem neuen Roman von Percival Everett, erschien im „New Yorker“ über ihn ein großes Porträt. Maya Binyam, die Autorin, fragt darin den afroamerikanischen Autor nach seiner Lektüre von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, dessen Geschichte „James“ aus der Sicht des Sklaven Jim erzählt. Er habe, antwortet Everett, den Roman als Jugendlicher nicht mit besonderer Begeisterung gelesen. Bei der neuerlichen Lektüre, vor der Abfassung von „James“, hätte er den Roman als „blur“ empfunden, was so viel bedeutet wie „verschwommen“, „undeutlich“, aber auch „verzerrend“. Eine Interpretation, die Mark Twains Absicht ziemlich nahe kommt: „Wer versucht“, schreibt er in einer ironischen Vorbemerkung, „in dieser Erzählung … eine Moral … zu finden, wird des Landes verwiesen; wer versucht, eine schlüssige Handlung darin zu finden, wird erschossen.“ Was dann allerdings nichts daran geändert hat, dass „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ immer als Text gegen den Rassismus gelesen wurde.
Aber kann man ihn auch als harmlosen Jugendroman lesen, in dem das eigentlich Grauen der Sklaverei nicht vorkommt. Viele Reaktionen von Jim bleiben dem heutigen Leser rätselhaft. Warum, beispielsweise, kann Jim sich vor Freude gar nicht mehr einkriegen, als er Huck nach einer Trennung wiedersieht? Beim ersten Lesen ist man von der tiefen Freundschaft Jims gegenüber Huck gerührt. Aber freut sich Jim nicht auch deshalb so sehr, weil der weiße Huck ein Stück weit seine Lebensversicherung ist? Twain erwähnt zwar Jims Angst vor den Sklavenjägern; aber was es konkret bedeutet, wenn sie ihn einfangen, erzählt er nicht. Jim bleibt deshalb „blur“. Allerdings gilt das auch für andere Figuren in Twains Roman, was wohl an seiner Absicht liegt, sie für den Leser „offen“ zu halten und jede Psychologisierung zu vermeiden.
Percival Everett ändert das. Indem er in „James“ die Flucht von Huck und Jim den Mississippi hinunter aus der Sicht von Jim erzählt, wird deutlich, weshalb ein etwa 13jähriger Junge so wichtig für einen erwachsenen, um die dreißig Jahre alten Mann wird. Es ist die Macht, die Huck allein aufgrund seiner Hautfarbe hat. Huck kann als Weißer die Situation am Ufer auskundschaften; Jim darf auf keinen Fall entdeckt werden. Einen Satz wie „aber wie er sich in der nächsten halben Stunde abrackerte, das zeigte, was für ne Angst er hatte“ füllt Everett erzählerisch mit Inhalt. Dabei hält er sich im Großen und Ganzen an den Plot Twains, lässt jedoch eine Reihe von Ereignisse weg und erzählt dafür neue. So wird in Everetts Version der Geschichte deutlich, wie schnell ein Sklave gelyncht wurde und wie perfide die nachträgliche juristische Begründung dafür war. Sammy, ein junges Mädchen, die verkauft und dadurch von ihrer Familie getrennt wurde, wird immer wieder von ihrem neuen Sklavenhalter vergewaltigt. Eindrucksvoll schildert Everett ihre Angst. Eine andere Stelle in „James“ könnte man als Kommentar zur identitätspolitischen Diskussion interpretieren. Jim denkt an seine Tochter, die er mit seiner Frau zurücklassen musste. „Ich fragte mich, wie sehr sie sich in diesem Augenblick um mich ängstigte, und fand den Gedanken, dass sie Angst verspürte, entsetzlich. Mir wurde klar, dass ich ihn deshalb entsetzlich fand, weil ich dieses Gefühl so gut kannte, jeden Tag, jede Nacht.“
In „Erasure“, einem Roman von Everett, der gerade unter dem Titel „American Fiction“ verfilmt wurde, hatte der nur bei der Kritik aber nicht bei den Lesern erfolgreiche Schriftsteller Thelonious Ellison den Bestseller einer schwarzen Kollegin kritisiert. Ein Roman, in dem sie die Geschichte einer schwarzen Frau mit gewaltsamer Ghetto-Kindheit erzählt. Das Buch würde auffälligerweise besonders vom weißen Kulturestablishment gepriesen, sagt Ellison, obwohl die Autorin selbst aus wohlhabenden und behüteten Verhältnissen käme. Ein Buch, dass die Erwartungen des Marktes nach Klischees und „authentischen“ Geschichten von Schwarzen aus dem Elend bediene und nicht nach literarischer Qualität. In „James“ vertritt Everett nicht die These, dass er den Sklaven Jim besser verstehen könnte, weil er Afroamerikaner ist; aber, so könnte man sagen, einen weißen Autor hat es bisher auch nicht interessiert, die Leerstellen in dem Twainschen Roman mit Inhalt zu füllen.
Dass „James“ ein Thesenroman ist, liegt im derzeitigen Trend, man denke nur an „Identitti“ von Mithu Sanyal. Der Eindruck, das eine Idee den Roman prägt, kommt auch dadurch zustande, dass sich Jim in Everetts Version heimlich lesen beigebracht und bei dessen Abwesenheit durch die Bibliothek des Friedensrichters Thatcher gearbeitet hat. Als Jim auf der Flucht mit Huck von einer Schlange gebissen wird, erscheint ihm in einem Fiebertraum Voltaire und diskutiert mit ihm sein Menschbild; Voltaire, der mit „Candide“ einen der prominentesten Thesenromane geschrieben hat. Aber auch John Locke taucht auf, der die Sklaverei ablehnte. Aber warum, fragt ihn Jim im Traum, hätte er dann für den Inselstaat Barbados eine Verfassung geschrieben, die die Sklaverei legalisiert? Theoretisch wäre ein so umfassend gebildeter Sklave möglich gewesen, praktisch aber war das äußerst unwahrscheinlich. Die Frage ist, ob es sinnvoll ist, die Geschichte umzuschreiben, indem man sie mit realitätsfernen Figuren erzählt. Im Grunde war das ja das Konzept des sozialistischen Realismus mit seiner Forderung, die Geschichte positiver Helden aus der Arbeiterklasse zu erzählen.
Andererseits betrachtet Everett selbst „James“ nicht als Thesenroman. In dem erwähnten Porträt von Maya Binyam, das den Titel „Percival Everett Can’t Say What His Novels Mean“ trägt, wehrt er sich gegen die Interpretation, dass „James“ eine Art Gegen-Huckleberry-Finn sei. Allerdings stellt auch Binyam die Frage, wie der Roman letztlich von seinen Lesern interpretiert werden wird. Und wie hätte Everetts 2019 verstorbene Kollegin Toni Morrison ihn gelesen? Wahrscheinlich so, wie sie die männlichen Klassiker der afroamerikanischen Literatur gelesen hat. Zu Ralph Ellisons Klassiker, „Der unsichtbare Mann“, meinte sie: „Die Frage für mich war. »Unsichtbar für wen?« Für mich nicht.“ Auch in „James“ spielen Frauen keine große Rolle. Ganz abgesehen davon, dass Morrison mit „Menschenkind“ einen anderen literarischen Ansatz verfolgt hat, über die Sklaverei zu schreiben. Einem, in dem deren Monstrosität in einer monströsen Tat endet, bei der die Sklavin Sethe ihre Kinder tötet, um ihnen ein Leben als Sklaven zu ersparen. Etwas, das den Leser verstört, aber noch lange über das Buch nachdenken lässt.
„James“ macht vieles deutlich, was Twain nur andeutet oder nicht erzählt. Und der Roman fügt den Abenteuern von Jim und Huckleberry Finn weitere Details der Geschichte des Rassismus in den USA hinzu. Die Dialoge sind ironisch, witzig und ihrer Hintergründigkeit interessant. Der Abenteuerplot macht den Roman zum Page-Turner. Aber entgegen der Meinung von Everett, einen dekonstruktivistischen Roman geschrieben zu haben, ist die Absicht überall erkennbar. Die Idee, Mark Twains Geschichte gegen den Strich zu bürsten, hat vielleicht nicht zu einem Gegentext geführt, sondern eher zu einer Ergänzung; literarisch überzeugend ist das aber letztlich nicht.
die tageszeitung, 15. April 2024
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