Iris Wolff erzählt in ihrem neuen Roman „Lichtungen“ die Geschichte vom Ende her. Das heißt, eigentlich ist das Ende, als Lev seine Kindheits- und Jugendliebe Kato in der Schweiz besucht, wiederum ein Anfang. Kato war einige Jahre zuvor aus dem kleinen Dorf in Rumänien, in dem beide aufgewachsen waren, weggegangen. Sie hatte sich Tom angeschlossen, einem Deutschen, der nach dem Fall der Mauer während einer Fahrradtour durch das Dorf kam. Ein Dorf, das zum großen Teil aus Bewohnern der deutschen Minderheit besteht, in der auch Iris Wolff aufgewachsen ist, die Rumänien als Kind mit ihrer Familie verlassen hat. Wobei sich Lev im Roman weder ganz als Deutscher, noch ganz als Rumäne fühlt, denn nur seine Mutter gehört zur deutschen Minderheit, während sein Vater und seine Geschwister aus dessen erster Ehe Rumänen sind.
Die Zeit, in der Lev und Kato aufwachsen, liegt lange zurück. Es ist die Zeit Ceauşescus, der einmal eine Hoffnung im sozialistischen Lager war, weil er 1968 offen den Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in die Tscheslowakei kritisierte. Der danach aber immer mehr zum selbstbezogenen Diktator wurde. Die Folgen betreffen auch das Dorf von Lev und Kato. Immer wieder ist von der prekären Existenz der deutschen Minderheit in dieser Zeit die Rede. Zentrum der Geschichte aber bleiben die individuellen Beziehungen zwischen den Figuren.
Gleich zu Beginn wird klar, dass Lev und Kato ein besonderes Verhältnis zueinander haben. Als Kinder waren sie unzertrennlich. Als dann Kato ihren ersten Freund kennenlernt, nimmt Lev das – wenn auch gekränkt – hin. Er kümmert sich einfach weiter um sie, ist immer da, wenn sie ihn braucht. Als Katos Freund plötzlich verschwindet, weil die Securitate ihn zu verhaften droht, ist Kato am Boden zerstört. Lev tröstet sie, aber er kämpft nicht wirklich um sie, macht nicht den letzten Schritt, den Schritt der Entscheidung für oder gegen eine Liebesbeziehung zu ihr. Andererseits kann auch Kato sich nicht wirklich für Lev entscheiden. Nach dem Fall der Mauer hat Lev dann nicht den Mut, mit Kato dem Dorf den Rücken zu kehren. Kato dagegen will weg. Als dann Tom mit seinem Rad ins Dorf kommt und für ein paar Wochen bleibt, spürt sie ihre Chance und zieht mit ihm weiter. Lev bleibt zurück, hat eine eigene Liebesbeziehung. Aber Kato geht ihm nicht aus dem Kopf.
Iris Wolff gelingt es, den Schwebezustand, in dem sich vor allem Lev befindet, so zu erzählen, dass sich jeder in diesem Gefühl der Unentschiedenheit, der Enttäuschung und den wenigen Momenten des Glücks wiedererkennt. Die Beziehung zwischen Lev und Kato hat etwas Pubertäres. Aber „Lichtungen“ ist ja auch über weite Strecken ein Coming-of-Age Roman. Und hat nicht jede große Liebe etwas Kindliches? Immer wieder sind es sprachlose Gesten, die bedeutsam sind. Sie sorgen dafür, dass nicht nur für die Protagonisten, sondern auch für den Leser vieles für eine eigene Interpretation der Figuren offen bleibt. Zum Beispiel ganz am Ende des Buches Levs Abschied vom Vater, der jeden Sommer das Dorf verlässt, um in einem weiter entfernten Waldgebiet zu arbeiten. »Lev?« »Hm-hm.« »Du kannst jetzt loslassen.«“ Als Lev fünf ist, stirbt sein Vater bei einem Arbeitsunfall.
Wie es am Ende, also am Anfang des Romans, mit Lev und Kato weitergeht, bleibt ebenfalls der Interterpretation des Lesers überlassen. Aber auch Lev ist inzwischen klar, dass er, ob er will oder nicht, immer eine Entscheidung fällt. Und das es o.k. ist, wenn eine Entscheidung für etwas gleichzeitig eine Entscheidung gegen etwas anderes ist. An einer Stelle sagt seine Mutter, „Lev, du wartest zu lange.“ Dass er dann doch noch nach Zürich zu Kato fährt, macht Hoffnung, aber seit ihrem Weggang aus Rumänien sind Jahre vergangen. Wenn der Leser trotz dieses Hin und Hers zwischen den beiden immer weiter liest, liegt das nicht nur an seinem Interesse zu erfahren, wie alles angefangen hat oder endet, sondern auch an der großen Kunst Iris Wolfs, mit wenigen Worten eine Situation vor dem inneren Auge des Lesers lebendig werden zu lassen, ihrer Fähigkeit, Stimmung zu erzeugen. Was will man mehr von einem Buch, das nicht auf einen spannenden Plot angewiesen ist, sondern vor allem von seiner Atmosphäre lebt, von seinen Vergleichen und Metaphern, kurz: von seiner Sprache.
Neues Deutschland, 19. März 2024