Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Film ist ein flüchtiges Gewerbe. Auf der Leinwand nur für kurze Zeit präsent, werden die meisten schnell vergessen. Aus der frühen Zeit des Kinos sind oft auch die Filmrollen verloren gegangen und vom Inhalt der Filme nur noch die fragmentarischen Berichte aus Zeitungen und Büchern erhalten geblieben. Selbst für einen Regisseur wie Wim Wenders war es Mitte der 1990er Jahre schwer, Kopien seiner frühen Filme für eine Retrostpektive im Berliner Kino Babylon aufzutreiben. Mit der Gründung von Stiftungen einzelner Regisseure, die sich um den Erhalt ihres Werkes kümmern, und der Digitalisierung hat sich die Situation inzwischen verbessert. Aber wer kennt heute noch den Regisseur Georg Wilhelm Pabst?

Daniel Kehlmann will das mit „Lichtspiel“ ändern. In der Rahmenhandlung des Romans lebt in einem Wiener Altenheim Franz Wilzek, ein inzwischen hoch betagter ehemaliger Kameramann des 1967 gestorbenen österreichischen Regisseurs. Er ist der letzte Lebende, der mit Pabst 1944/45 im besetzten Prag an dem Film „Der Fall Molander“ zusammengearbeitet hat. Der Film ist in den Kriegswirren verloren gegangen, niemand hat ihn je gesehen. Als Wilzek als Zeitzeuge in eine Talkshow eingeladen wird, kommt es vor laufender Kamera zum Eklat. Wegen seines hohen Alters schon leicht dement, behauptet er, der Film sei nie gedreht worden. Gleichzeitig erfährt der Leser, dass ihn die Bilder von den hunderten KZ-Häftlingen, die dazu gezwungen wurden, in einem nachgebauten Konzertsaal als Zuhörer zu fungieren, nicht mehr loslassen.

Es ist diese Ambivalenz von G.W. Pabst, die Daniel Kehlmann in seinem Roman interessiert. Pabst war ein genialer Regisseur, der nicht nur so berühmt war, wie Fritz Lang, Billy Wilder oder Ernst Lubitsch, sondern der auch kein Nazi war. Er hatte sozialkritische Filme gedreht wie „Die freudlose Gasse“ oder „Westfront 1918“, einen Antikriegsfilm, der ihn in den Augen der Nazis zum Kommunisten machte. Aber er hat andererseits zwischen 1939 und 1945 drei Filme in Nazi-Deutschland gedreht. Zwar waren es keine Propagandastreifen wie Veit Harlans „Jud süß“ oder Leni Riefenstahls Parteitagsfilme; aber durch ihre versteckte Verklärung der Selbstaufopferung, gelten sie manchen Filmhistorikern als effektivere Durchhalte- und Kriegspropaganda als Harlans offen antisemitischen Propagandastreifen.

Kehlmann konzentriert sich für die Handlung von „Lichtspiel“ deshalb auf die 1930er und 1940er Jahre. Er zeigt Pabst in Frankreich, wohin er nach der Machtergreifung der Nazis gegangen war, dann in Hollywood, wo er 1934 ankam. Auch dort gilt er als genialer Regisseur, aber er scheitert, weil er sich nicht wie Lang, Lubitsch oder Zinnemann an das Studiosystem anpassen konnte, abgesehen davon, dass er kaum Englisch sprach. Was dazu führt, dass er zwar den Film „A modern Hero“ drehen konnte, aber gezwungen wurde, sowohl das schlechte Drehbuch als auch die mittelmäßigen Schauspieler zu akzeptieren. Der Film wurde ein Flop, was dazu führte, dass er keine weiteren Aufträge mehr bekam.

Über G.W. Pabst gäbe es nur wenig Quellenmaterial, hat Daniel Kehlmann in einem Interview gesagt. Aber gerade das hätte ihn gereizt, weil er dadurch für seinen Roman viel dazu erfinden konnte. Kehlmann geht es nicht um eine in allen Einzelheiten nachprüfbare Biografie. „Lichtspiel“ erzählt allgemeiner von einem Regisseur, der zwischen dem Ehrgeiz, gute Filme zu drehen – was wegen des hohen finanziellen Aufwands und damit Risikos nicht einfach war und ist –, und der Ablehnung des Faschismus hin- und her geworfen wird. Als Pabst wieder nach Europa zurückkehrt, hat er Pech. Nach mehreren Filmen in Frankreich zieht er sich im Sommer 1939 bei einem Besuch seiner kranken Mutter in Österreich einen komplizierten Knochenbruch zu. Kurz darauf überfällt Hitlerdeutschland Polen und eine Rückkehr nach Frankreich ist nicht mehr möglich. Ein Versuch, über Rom wieder in die USA zurückzukehren scheitert. Pabst bleibt mit seiner Familie in Österreich. Und bekommt von Goebbels persönlich initiiert das verlockende Angebot, Filme zu drehen, in die ihm niemand reinredet, mit den besten Schauspielern und großer finanzieller Ausstattung.

„Lichtspiel“ ist ein spannend geschriebener Roman. Alle Figuren sind überzeugend in ihrer Widersprüchlichkeit gezeichnet. Die sozialen, politischen und beruflichen Zwänge des Filmgeschäfts werden von Kehlmann differenziert erzählt. Allerdings ist das Buch eher etwas für Freunde der großen Draufsicht. Die inneren Kämpfe der Figuren spielen in Kehlmanns Erzählung eine untergeordnete Rolle. Wie der Roman auch aus vielen Dialogen besteht, in vielen Abschnitten fast wie ein Drehbuch.

Doch die große Überblickserzählung führt an manchen Stellen zu dem Eindruck, dass nur der Vollständigkeit halber etwas erwähnt wird. So wirkt die Szene, in der Pabst unter Flüchtlingen in einem französischen Café sitzt, wie ein Namedropping des Exils. Kehlmann charakterisiert jeden mit ein paar Sätzen, was angesichts der umfänglich bekannten Biografien der Beschriebenen verkürzt wirkt, wie eine Schublade, in die sie geschoben werden. Vielleicht wäre es klüger gewesen, einen Roman mit einer erfundenen Figur zu schreiben, ohne die Beschränkung auf eine historische Biografie. Einen Roman, in dem keine prominenten Exilanten namentlich kurz auftreten, rein funktionell als Sidekicks sozusagen. Vielleicht hätte man sich auch auf weniger Handlung, dafür mehr auf die inneren Kämpfe im Künstler konzentrieren sollen. Denn es passiert ständig etwas in „Lichtspiel“. Aber das wäre dann auch ein anderer Roman geworden.

Neues Deutschland, 24. Januar 2024