Nele Pollatscheks neuer Roman „Kleine Probleme“ ist ein Buch ganz im Sinne des dialektischen Materialismus. Dem Ich-Erzähler und Helden der Geschichte, Lars Cornelius Messerschmitt, schlägt die Quantität der „Kleinen Probleme“ in die Qualität eines großen Problems um. Während zu Beginn der Beziehung zu seiner Frau Johanna die Arbeit an seinem Buch, seinem „Werk“, alle anderen Probleme klein und unwichtig erscheinen ließ, schlägt die Anzahl der „kleinen“ Probleme nun, nach zwanzig Jahren Zusammensein, in das große Problem um, dass Johanna ihn verlässt. Und das „Werk“, ja das „Werk“, ist immer noch nicht fertig.
Der Roman beginnt am 31. Dezember, dem letzten Tag des Jahres. Das ist deshalb wichtig, weil es
Messerschmitt diesmal nicht bei bloßen Sylvestervorsätzen belassen, sondern vor Jahresende noch Nägel mit Köpfen machen will. Auf eine Liste schreibt er dreizehn seiner „kleinen Probleme“ und will sie noch vor Neujahr abarbeiten. Das Ergebnis soll ihm – die Hoffnung stirbt zuletzt – Johanna zurückgewinnen.
Aber was heißt hier „kleine“ Probleme? Kleine Probleme, „also alles“, schreibt er. Aber „wenn ich das so schreibe, habe ich gleich Linas Papa, übertreibt nicht immer wieder so im Kopf“. Lina, seine pubertierende Tochter, die ein Poster von Margaret Thatcher in ihrem Zimmer aufgehängt hat und nicht an Sex vor der Ehe glaubt, die schon seit Monaten auf einer Matratze auf dem Fußboden schläft, weil Messerschmitt zwar angekündigt hat, das Bett eines großen deutschen Möbelhauses, „das sich auf Korea reimt“, aufzubauen, es aber letztlich nie getan hat. Als er einmal Lina, die durchaus handwerkliches Talent hat, dazu aufgefordert hatte, es doch einfach selbst aufzubauen, hatte seine Tochter nur geantwortet: „Weiß du, Papa, wenn ich das jetzt mache, dann lernst du das nie.“ Lina ist es auch, die einmal zu ihm meinte, er hätte es immer zu leicht gehabt und deshalb keine Willensstärke entwickelt. Und ohne Willensstärke erreiche man nichts. „Womit sie es denn bitte schwer gehabt hätte, fragte ich, mit dem englischen Internat, dem Einfamilienhaus oder der Lehrermutter? Mit dir Papa.“
Dass Lars Cornelius Messerschmitt solchen Gedanken einiges abgewinnen kann, ist das Tragische in diesem tragikomischen Roman. Eine Tragik, die bis zu der Einsicht geht, dass er sich an Johannas Stelle auch verlassen hätte. Er hat auch erkannt, dass es im reinen Geist widerspruchsfreier zugeht als im Kleine-Probleme-Sumpf der Wirklichkeit. Einem Sumpf, in dem sich dann das Putzen beispielsweise als größeres Problem herausstellt und sich auch beschreibungsmäßig auf ein weiteres Kapitel des Romans hinüberzieht. Und dann ist sie wieder da, die Dialektik: „Es reicht nicht, den Hausrat zu interpretieren, man muss ihn auch verändern. Man muss den Wischer vom Stiel auf den Mopp stellen. Also die Quantität des Putzens im Kopf muss eben noch in die Qualität der Sauberkeit im Haus umschlagen.“
Es gibt viel zu lachen in „Kleine Probleme“. Ein Lachen, das beim Leser zum Nachdenken führt. Klar, es gibt auch Kalauer, die keine weiteren Gedanken nach sich ziehen, wie beispielsweise die Korea-Möbel. Die sind dann zur intellektuellen Entspannung da. Schön ist auch, dass Nele Pollatschek alles mal nicht so ernst nimmt. Dazu gehört auch der kulturelle Ehrgeiz ihres Helden (das „Werk“). Außerdem wird dem Leser in „Kleine Probleme“ einiges klarer. Vieles bleibt jedoch offen und letztlich ungelöst. Ganz so wie in der Wirklichkeit, wo das gelöste Problem eigentlich immer ein neues Problem nach sich zieht, so wie in der Dialektik, die man als Versuch, die Wirklichkeit zu beschreiben, auch nicht stillstellen kann. Das Lachen, dass wird in diesem kleinen wunderbaren Roman deutlich, macht offen; offen für Neues. Für das, was man schon immer mal in der narzisstischen Postbank-jetzt-komm-Ich-Welt vom Kopf auf die Füße stellen wollte: „Sich nicht ablenken. Weniger denken, mehr hämmern.“
Neues Deutschland, 17. Oktober 2023