Lange gab es keinen Text mehr, der einerseits so weit weg und gleichzeitig so nah an der Gegenwart war wie Felix Hartlaubs „Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier“. Weit weg, weil Hitlers verschiedenen Einsatzzentralen im 2. Weltkrieg seit fast achtzig Jahren bis auf ein paar Bunkerreste nicht mehr existieren. Gleichzeitig so nah, weil Hartlaubs Aufzeichnungen, in denen er Dokumentarisches mit Fiktivem mischte, seine Berichte über Speichellecker, Opportunisten und mit Brutalität und Menschenverachtung dem Diktator vorauseilenden Militärs, eine erschreckende Aktualität besitzen.
Felix Hartlaub hat Hitler nur wenige Male von Weitem gesehen. Die Kriegstagebuchstelle des Oberkommandos der Wehrmacht, in der er vom Mai 1942 bis Kriegsende an der Abfassung des täglichen Berichts über den Kriegsverlauf arbeitete, war im Sperrkreis II untergebracht, während Hitler sich im hermetisch abgeriegelten Sperrkreis I aufhielt. Die von der Realität im wahrsten Sinne „entrückte“ Atmosphäre in den wechselnden Hauptquartieren des Diktators beschreibt Hartlaub an einer Stelle so: „Nirgends ist man so weit vom Kriegsende weg wie hier, aber auch nirgends so vertraut mit ihm. Und auch der beschwingte Kriegsanfang ist noch da, der steckt noch in den zierlich gefalteten Servietten, die der Küchenfeldwebel vor die Gedecke stellt, der ist noch längst nicht zu Ende gekostet.“ Mit hoher Sensibilität und sprachlicher Phantasie beschreibt Hartlaub die Schönheit der Natur in der Nähe der ukrainischen Stadt Winiza, wo sich zwischen Juli und Oktober 1942 das Hauptquartier Hitlers befand. Für die Kleingeistigkeit der Offiziere, die die Befehle des „Führers“ und seiner Generäle ohne mit der Wimper zu zucken ausführten und Millionen in den Tod schickten, hat er nur Ironie und Sarkasmus übrig. „Es ist merkwürdig“, heißt es in einer Szene im Kasino, „was hier mit den Köpfen vorgeht. … Am Schädel wird unmerklich hier ein Endchen abgehobelt, dort eine Beule abgeplattet oder durch Zementspitze versteinert, eine Delle eingeebnet, in der noch ein kleiner Satz persönlicher Rückständigkeit stagnierte. Eine langsame, aber unaufhaltsame Deformierung oder Umprägung, wie man will. … Man könnte sich denken, dass bei Vieh, das das ganze Jahr über im Stalle steht, ein ähnlicher Prozess stattfindet.“
Hartlaub war bewusst, dass die tägliche Arbeit an der Beschreibung der Schrecken, die er in verharmlosender Form von Zahlen und Truppenbewegungen für das Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht festhielt, zu einer „progressiver Herzverkrümmung“ führte, wie er es einmal nannte. Aber er hat sich nie dem Widerstand angeschlossen. Daran änderte auch seine Freundschaft mit Klaus Gysi und seiner Frau Irene Lessing nichts, die dem Widerstand angehörten. Die Eltern von Gregor Gysi konnten ihn, der sie noch am 2. Mai 1945 in Berlin besuchte, nicht davon überzeugen, zu desertieren und unterzutauchen. Irene Lessing brachte den Freund abends zum S-Bahnhof Nikolassee, von wo er zu einer Kaserne nach Spandau aufbrechen wollte. Danach verliert sich jede Spur von Felix Hartlaub. 1955 wurde er dann offiziell für tot erklärt.
Wäre Hartlaub kein so großartiger Erzähler, seine Fragmente über das Leben im Führerhauptquartier wären heute nur noch von historischem Interesse. Doch seine erzählerische Kunst und sein unbestechlicher Blick auf die Protagonisten im „Zentrum der Macht“ entfalten eine große Faszination. Gleichzeitig vermitteln seine „Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier“ wichtige Erkenntnisse über das Funktionieren der Diktatur. Hartlaub sah die eigene Mitschuld an der Katastrophe, ohne den Mut zu haben, daraus persönliche Konsequenzen zu ziehen. Illusionslos blickte er auf die Zeit nach deren Ende. „Die Frage nach der Genese“, schrieb er 1944 an einen Freund, „nach dem ‚Wie war es möglich‘, wird wohl die einzige sein, die noch an uns gerichtet, zu der vielleicht noch etwas zu sagen sein wird.“
Neues Deutschland, 29. Dezember 2022