Ein jeder, der nicht mit goldenen Teelöffeln aufgewachsen ist, weiß, was es bedeutet, kein Geld zu haben. Es ist die radikale Einschränkung der persönlichen Freiheit. Es ist ein abstraktes Gefängnis, aus dem man nur durch eins herauskommt: durch Arbeit. Aber das Zeitopfer, das die Arbeit verlangt, und das die, die Geld haben, nicht bringen müssen, ist wiederum eine Einschränkung dieser Freiheit. Alles hängt deshalb von der Bezahlung ab. Falls die Bezahlung schlecht ist, ist die persönliche Freiheit eingeschränkt. Ist sie gut, lässt sie sich vergrößern. Denn Geld ist Macht über andere, die man für sich arbeiten lassen kann, die einem freie Zeit verschaffen. Ein banaler Zusammenhang, den jeder kennt, der aber oft im Alltag verdrängt wird. Wer will schon mit einem schlecht bezahlten Job ständig daran erinnert werden, dass andere ohne ihr Zutun sehr viel freier sind als man selbst?
Die spanische Autorin Elena Medel hat in ihrem Roman „Die Wunder“ diesem Zusammenhang einen berührenden literarischen Ausdruck gegeben. Im Zentrum ihrer Erzählung steht eine Großmutter und ihre Enkelin. Doch María, Ende der 1940er Jahre geboren und Alica, die in den 1980er Jahren zur Welt kam, kennen sich nicht. Weil sie zum arbeiten nach Madrid ging, hatte María ihre uneheliche Tochter Carmen in den 1960er Jahren bei ihrer Familie in der Provinz zurücklassen müssen. Die Stadt versprach ihr Arbeit und einen Verdienst, der ein besseres Leben jenseits des Gelästers der Nachbarn ermöglichen würde. Doch ihr Einkommen als Haushaltshilfe und Kindermädchen ist so gering, dass sich ihre Hoffnung, die Tochter nachholen zu können, zerschlägt. María schickt so viel Geld nach Hause, wie sie kann. Aber statt sich um ihre eigene Tochter zu kümmern, muss sie die Kinder ihres reichen Arbeitgebers betreuen. Die Distanz zu Carmen wird immer größer; am Ende lädt sie ihre Mutter nicht zu ihrer Hochtzeit ein. Verzweifelt erzählt María einer Freundin davon. “Sie hat mich ‚María‘ genannt … Nicht ‚Mutter‘, sie hat mich beim Vornamen genannt. Ich solle ja nicht auf die Idee kommen, dort aufzutauchen, denn das sei ein wichtiger Tag für sie, und es habe keinen Sinn, dass ich Interesse vortäuschte, wenn ich nie welches gehabt hätte.“ Danach bricht der Kontakt zu Carmen ab.
Über den Umweg ihres Bruders erfährt María, dass Carmen den Besitzer einer kleinen Restaurantkette geheiratet und zwei Töchter – Alicia und Eva – bekommen hat. Doch Carmens Mann geht bankrott und bringt sich um. Die Familie steigt sozial wieder ab. Statt in der gewohnten großen Wohnung mit allem, was man sich wünscht, landet Carmen mit Alicia und Eva in einer kleinen Wohnung. Für Alicia ändert sich daran auch nach der Schule nicht viel. Nach dem Abbruch des Studiums arbeitet sie als Verkäuferin und lebt wie ihre Mutter und Großmutter in ärmlichen Verhältnissen.
María wie auch Alicia versuchen auf ihre Art unabhängig zu bleiben. María beginnt sich in einer Bürgerinitiative zu engagieren, in der sie – weil sie als Frau nicht ernst genommen wird – eine Frauengruppe gründet. Lange lehnt sie es ab, dem Heiratswunsch ihres Freundes nachzugeben, weil sie weiß, wie sie diese Entscheidung ihr Leben einschränken würde. Ihre Enkelin Alicia engagiert sich nicht politisch, aber sie versucht, ein unabhängiges Leben zu führen. Auch sie bleibt zunächst in der eigenen kleinen Wohnung wohnen und zieht nicht mit ihrem Freund zusammen. Der Abstieg nach dem Tod ihres Vater steckt ihr in den Knochen; sie fühlt sich von ihm um die Möglichkeiten, die sie gehabt hätte, betrogen. Aber sie versucht unter den erschwerten finanziellen Bedingungen ihre Freiheit so wenig wie möglich einzuschränken.
„Die Wunder“ ist der erste Roman von Elena Medel, die zuvor drei Gedichtbände und zwei Sammlungen mit Essays veröffentlicht hat. Sie erzählt die Geschichte von María und Alicia in einer nüchternen Schreibweise, den Verhältnissen der beiden Frauen entsprechend. Vielleicht trägt der weitgehende Verzicht auf sprachliche Ausschmückungen, auf Metaphern und Vergleiche dazu bei, dass manche Stellen den Leser so sehr anrühren. Dazu gehört die Beschreibung von Marias Pflege der Großmutter jener Familie, für die sie schon die Kinder großgezogen hat. Als sie 1976 an dem Tag stirbt, an dem Franco aufgebahrt wurde und Hunderttausende an dem Leichnam vorbeidifilieren, wird die ganze Kälte der spanischen Klassengesellschaft der 1970er Jahre deutlich. Voller Angst, was zu tun sei, rennt sie durch das große Haus, aber niemand öffnet ihr. Erst ganz am Ende gelingt es ihr, eine andere Angestellte dazu zu bringen, ihr zu helfen. Eine andere Angestellte, die man auch nicht nach ihrem Namen, sondern „nach der Wohnung“ nennt, „in der sie putzen, abwaschen, kochen. Maria wäscht die Señora und wechselt ihr die Windeln, die aus dem ersten Stock rechts erträgt die Zwillinge nicht, in der Wohnung oben halten sie nie mehr als zwei, drei Monate durch. Wenn Maria einmal nicht mehr dort arbeitet, wird niemand im Haus mehr etwas von ihr erfahren: Sie wird verschwinden, als hätte sie nie existiert.“
Neues Deutschland, 31. Oktober 2022