Thomas Stangl / Anne Weber: Über gute und böse Literatur

Die große Frage der Literaturkritik ist noch immer unbeantwortet: Was ist es eigentlich, was eine gute Erzählung, einen guten Roman ausmacht? Selbst der Urteilsstarke Marcel Reich-Ranicki, in dem viele gerne den unfehlbaren Literaturpabst sahen, war sich der kurzen Halbwertszeit seiner Wertungen bewusst. Seine Fernsehsendung „Das literarische Quartett“ ließ er immer mit dem Brecht-Zitat enden: Und wir „sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Und doch, trotz aller Zweifel, juckt die Frage immer wieder. Und zwar nicht nur die Kritiker und Leser, die nach guten Büchern Ausschau halten, sondern auch die Autorinnen und Autoren selbst, die sich fragen, worin das Geheimnis einer guten Erzählung oder eines guten Romans besteht.

Der österreichische Autor Thomas Stangl und die in Frankreich lebende deutsche Übersetzerin und Autorin Anne Weber haben einen E-Mail-Wechsel zu dem Thema geführt und unter dem Titel „Über gute und böse Literatur“ veröffentlicht. Den Stein der literarischen Weisheit, das ist beiden klar, werden auch sie nicht finden. Aber was sie erwarten, ist ein Austausch der Argumente, der der Antwort ein Stück weit näher kommt.

Zu Beginn äußert Anne Weber die Vermutung, dass „gute“ Literatur von einem Wagnis abhängt: „Vielleicht besteht das Wagnis … darin, im Erzählen von Emotionen bis ans Äußerste zu gehen, also bis kurz vor den Scheidepunkt zu gehen, wo Gefühl in Sentimentatlität abrutscht? Bis an die Grenze zur schlechten Literatur?“ Thomas Stangl denkt dabei an Marguerite Duras, die in „Der Liebhaber“ und „Der Liebhaber aus Nordchina“ dieselbe Geschichte zwei Mal erzählt hat. In „Der Liebhaber“, so Stangl, gelinge es ihr, auf dem schmalen Grat zur Sentimentalität entlang zu erzählen, während ihm „Der Liebhaber aus Nordchina“ so vorkomme, als rede hier „jemand nur vor sich hin“. Anne Weber erinnert sich an die unerträgliche Leseerfahrung von „Der Schmerz“, dem Roman von Maguerite Duras, in dem sie von der Rückkehr ihres Mannes aus dem Konzentrationslager Buchenwald erzählt. „Ich meine nicht, was sie darin beschreibt – das ist auf andere Weise unerträglich –, sondern das Geschauspielerte, die selbstgefällige Übersteigerung ihrer eigenen Regungen und Befindlichkeiten.“ Es gäbe, schreibt Weber, „eine literarische Qualität, die eine moralische ist. … Allerdings könnte es sein, dass unter allen Qualitäten, die Literatur haben kann, diese die am wenigsten objektivierbare ist.“

Um Moral geht es auch im zweiten, umfangreicheren Teil des Buches. Allerdings um eine spezielle Moral, die, so Stangl, nichts mit Konventionen oder Tabus zu tun hat, sondern mit einer bestimmten „Haltung zum Gegenstand“. Was ist, wenn ein Mensch, der lebt oder gelebt hat, zu einer literarischen Figur wird? „In welcher Form ist es erträglich oder vertretbar, ihn oder sie zum Objekt zu machen – oder lässt es sich doch vermeiden?“ Sowohl Weber als auch Stangl haben für ihre Bücher reale Vorbilder verwendet. Anne Weber mit „Annette, ein Heldenepos“ sogar jemand, der noch lebt – die Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Weber schreibt, dass Beaumanoir das Buch zwar gut fand, sich darin aber nicht wiedererkennen konnte. Während jemand, der Anne Webers Vermutung nach aus dem näheren Umfeld von Beaumanoir kommen muss, es nochmals anders sah. In einem anonymen Kommentar einer Onlinezeitschrift kritisiert er ihr Bild der Widerstandskämpferin in „Annette, ein Heldenepos“ als zu positiv. Denn Beaumanoir hätte zwar jüdische Kinder vor den Deutschen gerettet, aber den eigenen Kindern die Mutter genommen, weil sie als Widerstandskämpferin gegen den Algerienkrieg für zehn Jahre untertauchen musste und in dieser Zeit ihre Kinder nicht sehen konnte.

Es ist gut, dass Anne Weber und Thomas Stangl in ihrem E-Mail-Wechsel die meisten Fragen offen lassen. So bleibt die lockere Diskussion der beiden für den Leser anregend. Und das nicht nur für Literaturprofis, sondern für jeden. Denn ist nicht das Bild, das sich jeder vom Anderen macht, einer literarischen Figur ähnlich? Sicher, der große Unterschied besteht darin, dass eine Figur in einem Roman kaum verändert werden kann, während das Bild eines Anderen im Bewusstsein flexibel bleibt. Aber wie schwer lassen sich beispielsweise Vorurteile ändern? Und wie lange treiben sie hartnäckig ihr Unwesen, fast so wie eine über die Jahrhundert tradierte literarische Figur.

Neues Deutschland, 6. Juli 2022