Shumona Sinha: Das russische Testament

In dem Buchladen von Prakash auf der College Street in Kalkutta stapeln sich die Bücher bis an die Decke. Bei der Auswahl der Titel ist der bengalische Buchhändler nicht wählerisch: Von Marx’ Kapital über Gedichte von Rilke bis zu Adolf Hitlers „Mein Kampf“ verkauft er alles, was nachgefragt wird. Auch Übersetzungen aus dem Französischen, Italienischen und Spanischen sind dabei. Bei den kommunistischen Studenten der Nahe gelegenen Universität stehen besonders russische Klassiker und sowjetische Literatur hoch im Kurs. Weil Prakash jedoch auch Hitlers Machwerk verkauft, dringt eines Tages eine Gruppe von ihnen in seinen Laden ein, zieht eine Reihe von Titeln aus den Bücherstapeln, übergiest sie auf der Straße mit Benzin und zündet sie an. Prakash ist so überrascht, dass er nichts dagegen unternimmt. Erst als die Studenten weiterziehen, setzt er sich neben den Aschehaufen auf die Straße und weint. Seine Tochter Tania, die gerade im Laden gespielt hatte, geht zu ihm hinaus, zieht ein halb verkohltes Exemplar von „Mein Kampf“ aus dem Haufen und nimmt es mit nach Hause. Später „rettet“ sie weitere Bücher, die sie heimlich aus dem Buchladen ihres Vaters entwendet. Als sie dann irgendwann die Bücher zu lesen beginnt, fällt ihr Interesse besonders auf die Titel, von denen die Erwachsenen meinen, dass sie noch zu jung dafür sei.

Die indische inzwischen in Frankreich lebende Schriftstellerin Shumona Sinha erzählt in ihrem neuen Roman „Das russische Testament“ Tanias Geschichte. Ihr Vater hatte sich, als sie Ende der 1970er Jahre zur Welt kam, „von seiner Kundschaft und deren Begeisterung für russische Literatur inspirieren“ lassen und ihr einen russischen Namen geben. Auch die ersten Kinderbücher, die Tania liest, stammen aus Russland, darunter die Bilderbücher „Mascha und das Kissen“ von Galina Lebedewa und „Die erste Jagd“ von Witali Bianki. Später, als Studentin, findet sie heraus, dass viele der aus dem Russsichen übersetzten Kinderbücher, die sie so geliebt hat, ursprünglich in dem 1921 von Kornei Tchukowski und Lew Kljatschko gegründeten Raduga-Verlag erschienen sind. Neben Tschukowksi, der hier unter anderem „Der Waschblitzzauber“ und „Der Riesenkakerlak“ veröffentlichte, die in Russland heute noch jeder kennt, konnte Kljatschko fast alle großen russischen Dichter der Zeit dazu bringen, ein Kinderbuch für den Verlag zu schreiben. Sehr schnell wurden die Bücher von Raduga auch außerhalb der Sowjetunion zum Erfolg. Unter anderem gewannen sie eine Medaille für Buchkunst auf der Weltausstellung in Paris. Doch die Bücher Kljatschkos waren wenig didaktisch, sodass sie sich schlecht für die offizielle Propaganda eigneten. Die heftigste Kritik kam von Lenins Ehefrau Nadeschda Krupskaja. Sie bezeichnete Tschukowskis Bücher bei Raduga als „bourgeoisen Schund“. Anfang der 1930er Jahre musste Klatjschko deshalb seinen Verlag schließen. Er starb 1933, vor der Zeit des großen Terrors.

Shumona Sinha lässt die Geschichte des Raduga Verlags im Wechsel mit Tanias Geschichte von Kljatschkos Tochter Adel erzählen. Sie versetzt die alte Frau, die 2005 starb, in ein russisches Altenheim, wo sie über ihr Leben und ihren Großvater nachdenkt. Angeregt wird sie dazu durch einen Brief, den Tania ihr aus Kalkutta schreibt. Tania, die inzwischen Studentin ist und vor der homophoben, frauenfeindlichen Sexualmoral in Indien in den geistigen Raum der russischen und sowjetischen Kultur geflüchtet ist und mehr über den Verlag ihrer Kindheitsbücher wissen will.

„Das russische Testament“ ist ein Hommage an Lew Moisjewitsch Kljatschko, dem heute fast vergessenen Verleger von Raduga, und seine Bücher. Überzeugend erzählt Shumona Sinha von einer sowjetischen Enklave im indischen Westbengalen, wo von 1977 bis 2011 nicht nur die Kommunistische Partei Indiens ununterbrochen die Regionalregierung stellte, sondern wo es schon davor eine lange Übersetzungstradition aus dem Russischen gab. Es ist die Geschichte eines Mädchens und später einer jungen Frau in einer für uns heute fremden Welt; einer Welt geprägt von Homophobie und Frauenfeindlichkeit, in einer Provinz Indiens, die kulturell wie ein Raumschiff in der Sowjetunion gestartet war und erst Jahrzehnte nach deren Ende wieder in der Wirklichkeit ankam.

Shumona Sinha: „Das russische Testament“, Edition Nautilus, 184 Seiten, 20 Euro.

Neues Deutschland, 18. Januar 2022